1 ...7 8 9 11 12 13 ...25 Rita blickte kein einziges Mal von ihren Nudeln auf. Doch ihr gesenkter Blick war jetzt voll von Zorn, Kränkungsschmerz und einer instinktiven Abscheu vor dieser ungerechten Beurteilung. Nur sie allein wusste, was ihre Mutter durchlitten hatte. Sie hatte mitbekommen, wie Mae wegen ihrer Scheidung verhöhnt wurde, hatte zugesehen, wie sie anderer Leute Wäsche bis spät in die Nacht gebügelt hatte, hatte beobachtet, wie die ansehnliche Frau zuversichtlich zu Vorstellungsgesprächen marschiert war, nur um dann niedergeschlagen und in Tränen aufgelöst wieder nach Hause zurückzukehren.
„Was für eine faule Frau! Tja, so ist das Leben“, machte Onkel Pete weiter.
Ohne ein Wort zu sagen, stieß Rita das spitze Ende des Brotmessers auf den Tisch und schleuderte es an den Kopf ihres Onkels. Das Messer blieb in der Tapete stecken, nur wenige Zentimeter von seinem fassungslosen Ziel entfernt. Bleich und erschüttert konnte Onkel Pete zunächst kaum mehr atmen. Großmutter Gianfrancesco legte langsam ihre Gabel nieder, als ob eine schnelle Bewegung noch mehr fliegendes Besteck hervorrufen würde. Da die Kritik an ihrer Mutter verstummt war, rannte Rita wutentbrannt vom Tisch weg und flüchtete in den Schnee hinaus. Hier sah man bereits ein erstes Aufglimmen der Empörung, die später dann immer auftrat, wenn jemand angegriffen wurde, der ihr nahestand.
„An jenem Abend ging ich und ging ich. Und es wurde mir bewusst, dass es da irgendetwas in meinem Inneren gab, das imstande war, Böses zu tun – jemanden umzubringen“, erinnerte sie sich später. „Jetzt war ich entschlossen, dies vollständig in den Griff zu bekommen, was auch immer es sein mochte – vermutlich würde man es als Zorn bezeichnen. Man kann hier Gottes Vorsehung entdecken, weil Er mich erkennen ließ, wozu ich fähig war. Und ich wusste, ich musste mich ändern, aber ich wusste nicht, wie.“
Ritas Schulnoten spiegelten ihre aufgewühlten Gefühle wider. Am Ende der elften Klasse hatte sie die Schule fast zwei Monate lang versäumt und war in drei Fächern durchgefallen. All dies wurde ihrer Mutter vorenthalten, deren Tränen Rita mehr als alles andere fürchtete. So begann sie heimlich, Ferienkurse zu absolvieren und erzählte erfundene Geschichten, um ihre Abwesenheit von zu Hause plausibel zu machen.
Durch die Teilnahme an den Sommerkursen wurde Ritas Laufbahn als Tambourmajorette schließlich beendet. Obwohl sie später erklärte, dass dies die „dümmste Sache“ war, die sie jemals angefangen hatte, erlangte Rita durch die Führung der Musikkapelle vor einem großen Publikum eine derartige Ungezwungenheit und innere Ruhe, die sie auf andere Weise vielleicht gar nicht erreicht hätte. Das einzige bekannte Foto von Rita, das sie in der Uniform der Tambourmajorette zeigt, lässt eine natürlich wirkende Darstellerin erkennen, sehr selbstbewusst und keck, die mit großer Freude eine perfekte Pose einnimmt, den Kopf nach hinten geworfen und ein Bein stilbewusst angewinkelt.
Seit ihrer Rückkehr aus Philadelphia ging es Mae Rizzo besser, ja, sie schien sogar geheilt und hatte ein neues Lebensziel vor Augen. Sie versuchte, eine feste Anstellung zu finden, was ihr jedoch nicht gelang.
Rita machte sich Maes Enttäuschung zu eigen und beschloss, trotz ihrer eigenen schulischen Schwierigkeiten, selbst aktiv zu werden. Mutig marschierte sie ins Rathaus, um den republikanischen Bürgermeister von Canton, James Seccombe, aufzusuchen. Sie ging taktisch geschickt vor und erkundigte sich, welche Möglichkeiten es für eine Anstellung gebe. Ohne das Wissen ihrer Mutter gab sie dann in Maes Namen die Bewerbung für eine Stelle bei der Stadt ab.
„Meine Mutter hat ihr ganzes Leben lang im Wahlbereich für die Republikanische Partei gearbeitet“, erklärte Rita Bürgermeister Seccombe. „Momentan kann sie nur keine Arbeit finden. Ich glaube, dass sie sich für ihren Einsatz etwas verdient hat.“
„Das meine ich auch“, sagte der Bürgermeister, von der Hartnäckigkeit des Mädchens beeindruckt. „Sie muss aber eine Prüfung für den öffentlichen Dienst ablegen.“
„Das geht schon in Ordnung.“
„Deine Mutter soll einen Brief an den Verwaltungsausschuss schreiben,“ wies der Bürgermeister Rita an. Sie rannte nach Hause und überbrachte ihrer Mutter die gute Nachricht.
Mae war begeistert, bis sie von der Prüfung erfuhr. Dann setzte Panik bei ihr ein. Geplagt von ihren alten Ängsten, war Mae nahe daran aufzugeben. „Ich kann keine Prüfung mehr bestehen,“ sagte sie.
„Dann versuche es, versuche es einfach“, wurde sie von Rita ermutigt. Und tatsächlich schaffte Mae es und bekam die Stelle.
An der McKinley High School stand Rita vor einem beschwerlichen Abschlussjahr, das mit zusätzlichen Kursen vollgepackt war, in denen sie den versäumten Stoff nachholen musste, den sie im Jahr zuvor nicht geschafft hatte. Aus den Zeugnissen ist zu entnehmen, dass sie Kurse in Wirtschaftslehre, Buchführung, Verkaufsmethodik, Maschinenschreiben und sogar in Technischem Zeichnen belegt hatte. Mit jedem dieser Kurse sollten ihr Fähigkeiten vermittelt werden, die für ihr späteres Leben sehr nützlich waren, doch damals war es einfach nur eine zusammenhangslose Ansammlung von Kursen, die von ihr gewählt wurden, um ein Abschlusszeugnis zu erlangen.
Ohne ihre Aufgabe als Majorette zog sich Rita nun in ihr Schneckenhaus zurück, ganz darauf konzentriert, den Schulabschluss wie die anderen auch zu schaffen.
Eines Tages im Dezember 1940 befand sich Rita auf ihrem Heimweg von der Schule, als sie, wie sie es später bezeichnete, „das größte Geschenk, das ich von Gott jemals erhalten habe“, bekam. Ihr Magen schnürte sich zusammen, als sie das Haus der Gianfrancescos erreichte. An der Türschwelle konnte sie kaum noch auf den Beinen stehen. Ihre Knie und Ellbogen wurden wachsweich. Ihre Großmutter gab ihr einige Gläser warmes Wasser, die sie mit Schweißperlen im Gesicht austrank. Dies brachte jedoch keine Besserung. Die Krämpfe hielten eine ganze Stunde lang an.
Danach wurde Rita in den folgenden vierundzwanzig Stunden von Durchfall geplagt. Ihre einst fülligen Wangen hingen nun wie Satteltaschen an den Schläfen ihres Porzellangesichts. Jedes Mal, wenn sie den Versuch unternahm, etwas zu essen, kam es ihr vor, als zerschnitten Glasscherben ihre Eingeweide. In den folgenden Tagen verweigerte ihr Körper die Aufnahme jeglicher Nahrung, und so war sie gezwungen, eine eingeschränkte Diät mit Zwieback, Tee und weichen Nahrungsmitteln, die ihr Organismus aufnehmen konnte, einzuhalten.
Bis Anfang 1941 befielen die Krämpfe die Achtzehnjährige oft dreimal in der Woche. Doch selbst inmitten dieser körperlichen Belastung blieb Ritas Hauptanliegen die Sorge um das Wohlergehen ihrer Mutter.
Selbst Wochen nach der Ablegung ihrer Prüfung für den öffentlichen Dienst hatte Mae noch immer nichts vom Rathaus gehört. Das angespannte Warten auf das Ergebnis hatte wahrscheinlich ihren zweiten Nervenzusammenbruch verursacht – was zu einem erneuten sechswöchigen Aufenthalt in Philadelphia führte.
Jetzt stand Rita am Vorabend ihres Schulabschlusses vor einem ernüchternden Erwachsenendasein und war erneut mutterseelenallein. Obwohl sie Mae deren Abwesenheit nicht übel nahm, erzählte mir Mutter Angelica dennoch, dass diese Erfahrung sie zu der Erkenntnis führte, dass sie von niemandem Unterstützung erwarten konnte – weder von ihrer Mutter noch von ihrem Vater, noch nicht einmal von ihren Großeltern. Die Zukunft würde gänzlich von ihrem eigenen Einfallsreichtum abhängen. Mit dieser Einsicht fing Rita ganz allein mit der Arbeitssuche an.
Mae Rizzo war emotional ausgebrannt, ohne Arbeit und wieder knapp bei Kasse nach Canton zurückgekehrt. Am 22. Mai 1941 reichte sie beim Bezirksgericht einen Antrag auf Auszahlung ausstehender Unterhaltszahlungen in Höhe von 2098,50 Dollar ein, die sie von ihrem früheren Ehemann einklagte. Ob ihr das Gericht das Geld zusprach, ist zwar nicht klar, doch erhielt Mae am 1. Juli 1941 eine Stelle als Buchhalterin im Büro der Wasserwerke von Canton. Die Prüfung für den öffentlichen Dienst hatte sie ja bestanden. Die Arbeit brachte Maes Leben wieder ins Gleichgewicht, und ein Gefühl der Sicherheit erfüllte sie. Um ihren finanziellen Überfluss zu zeigen, putzte sie den Raum, den sie im Haus der Gianfrancescos mit Rita teilte, fein heraus mit Bettdecken aus Satin, die zudem noch rundherum mit Volants abgesteppt waren, mit Vorhängen an den Fenstern und mit neuen Lampen. All dies hätte sie sich zuvor niemals leisten können. Diese neuen Annehmlichkeiten boten Rita indes nur wenig Trost, denn ihr Magenleiden verschlimmerte sich.
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