1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Um ihrer Mutter jeden zusätzlichen Kummer zu ersparen, bemühte sich Rita, ihre Noten an der McKinley High School zu verbessern, was ihr allerdings nur mit mäßigem Erfolg gelang. In ihrem zehnten Schuljahr entdeckte Frau Thompson, ihre Lehrerin für Wirtschaftslehre, etwas in dieser hageren, verschlossenen und schlechten Schülerin. Vor der Klasse verkündete die Lehrerin, dass es jemanden in diesem Raum gäbe, der lauter Einsen und Zweien schreiben und auch die beliebteste Schülerin der ganzen Schule sein könnte, wenn sie sich nur anstrengen wollte. Nach dem Unterricht rief Frau Thompson Rita zu sich.
„Du weißt, dass ich über dich gesprochen habe“, sagte die Lehrerin.
„Ja“, entgegnete Rita.
„Und nun, was gedenkst du zu tun?“
„Nichts“, sagte Rita trotzig. „Ich mag die Menschen nicht, und ich mag auch Sie nicht.“
Auf ihrem Heimweg bereute Rita ihre garstige Bemerkung, aber es fiel ihr schwer, ihr cholerisches Temperament zu bändigen. Sie konnte ohnehin keine Freunde haben. Mae hätte dies als unangenehm empfunden. Außerdem wäre jeder, der Ritas Aufmerksamkeit beansprucht hätte, von ihrer Mutter als Bedrohung wahrgenommen worden. Mae zuliebe war aus Rita eine überzeugte Einzelgängerin geworden.
Ein paar Tage nach ihrem Gespräch mit der Wirtschaftslehrerin sprach der Bandleader der zur Schule gehörenden Musikgruppe Rita an und fragte sie, ob sie gerne Tambourmajorette werden wollte. Als Wiedergutmachung für ihre freche Antwort, die sie Frau Thompson gegeben hatte, und ohne sich irgendwie mit Musik auszukennen, nahm sie die Herausforderung an. Im Rückblick glaubt Mutter Angelica, dass Frau Thompson und die anderen Lehrer sich vielleicht zusammengetan hatten, um ihr zu helfen. Im Sommer des Jahres 1939 übernahm sie den Taktstock.
„Sie konnte sehr gut wirbeln“, erinnerte sich Blodwyn Nist, die mit ihr zusammen Tambourmajorette war. „Sie hatte diese großen Hände und machte es richtig gut.“ Blodwyn und Rita waren die ersten weiblichen Majoretten in der Geschichte der Schule. Sie traten zusammen bei Sportveranstaltungen, Paraden und anderen Gemeindefesten auf. Nist zufolge war Rita sehr leutselig und hatte ein feines Gespür für das, was richtig und falsch war.
Es scheint jedoch, dass in dieser Zeit ein gewisser Zwiespalt bestand zwischen Angelicas Erinnerung an ihr eigenes Selbstbild und der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Person. Entweder hatte sich Rita von ihrer Mutter inspirieren lassen und in der Öffentlichkeit eine fröhliche Maske aufgesetzt, um die Ängste und Sorgen zu verbergen, die ihren Alltag verdüsterten, oder aber die neue Aufgabe, die ihr als Majorette zugefallen war, brachte die leichtere, die beschwingtere Seite ihres Charakters zum Vorschein. Was auch immer nun der Fall gewesen sein mag, keine ihrer Mitschülerinnen stand ihr nahe genug, um die Wahrheit zu erkennen. Die Gespräche mit Klassenkameradinnen ergaben, dass Rita in der Schule keine engen Freundschaften pflegte und, abgesehen von ihren Pflichten als Majorette, für sich alleine blieb. Wie ihre Mutter konnte Rita beharrlich eigenständig und argwöhnisch gegenüber Außenstehenden sein.
Bei Tanzveranstaltungen in der Schule machte sie nie mit, und niemand konnte sich daran erinnern, dass sie jemals mit einem Jungen ausgegangen war. „Ich hatte nie eine Verabredung und wollte auch keine“, vertraute Mutter Angelica mir an. „Ich hatte einfach überhaupt kein Verlangen danach. Vermutlich hatte dies alles keinen Reiz für mich, weil ich die schlechteste Seite einer Ehe miterlebt hatte.“
Im Jahr 1939 ging das Getöse um die Fußballspiele Rita sehr auf die Nerven. Die lärmenden Massen und sogar schon das Geschwätz in der Schule störten die Sechzehnjährige. Es kam ihr vor, als stürze die ganze Welt auf sie ein. Um dem ganzen Krach zu entkommen, ergriff sie an den Nachmittagen im wahrsten Sinne des Wortes die Flucht aus der McKinley High School. Als sie ihren nervösen Zustand schließlich satthatte, suchte sie einen Arzt auf. Der Doktor diagnostizierte einen Calcium-Mangel, der zu ihrer reizbaren Verfassung beitrug. Er verschrieb Calcium-Spritzen und Medikamente für ihre Nerven. Doch die Ursache ihrer Probleme lag vermutlich nicht im Mangel an Mineralstoffen.
Mae hingegen erlebte daheim ihre eigene Nervenkrise: Ihre Weinkrämpfe nahmen zu, ebenso auch ihre Selbstmorddrohungen. Die Taktiken, die Rita normalerweise anwandte, um Mae aus ihrer tiefen Depression herauszureißen, erwiesen sich als unwirksam. Besorgt darüber, dass ihre Mutter nicht mehr „sie selbst“ war und an „totaler Erschöpfung“ litt, beschloss Rita, dass Mae eine gewisse Zeit außerhalb von Canton verbringen sollte. Mit dem Segen ihrer Großeltern schickte Rita ihre Mutter, die nun ihren ersten regelrechten Nervenzusammenbruch erlitt, nach Philadelphia, damit sie dort eine Zeitlang bei ihrer Schwester Rose verbringen konnte.
Zurückgelassen mit Angst- und Schuldgefühlen, versuchte Rita ihren normalen Alltag aufrechtzuerhalten. Sie ging in den Unterricht, verdiente Geld damit, dass sie anderen zeigte, wie man den Tambourstock schwingt, und lebte bei den Gianfrancescos. Doch bald schon stellte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit ein, ein schreckliches Gefühl, dass sich ihr Schicksal nie mehr zum Guten wenden und ihre Mutter sich vielleicht nicht mehr erholen würde. Aus diesem Hexenkessel der Apathie und des Elends ging großer Kummer hervor, der Rita Rizzo verändern und sie zu einem Leben hinziehen sollte, wie sie es sich zu jener Zeit noch nicht vorstellen konnte.
2. Kapitel
Der Schmerz als Geschenk
In jener Nacht des Jahres 1939 lag viel Schnee auf den Eingangstreppen der Häuser in der Eleventh Street. Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten den unteren Teil des verwitterten Lattenzaunes, der vor dem Haus der Gianfrancescos stand. In der geräumigen und schön tapezierten Küche ihrer Großmutter – der Duft von Oregano und Knoblauch schwebte wie Weihrauch in der Luft – stocherte Rita Rizzo in den hart gewordenen Nudeln herum. Sie war jetzt an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem sich ein Teil ihres Charakters entwickelte, der den Rest ihres Lebens überschatten sollte.
Obwohl ihre müden braunen Augen nichts davon verrieten, stiegen doch widerstreitende Gefühle in ihr auf, einerseits der Erleichterung und andererseits der Sehnsucht, als sie an ihre abwesende Mutter dachte, mit der zusammen sie so oft an diesem schon so abgenutzten Tisch gesessen war. Ihr gegenüber saß Onkel Pete über seinen Teller gebeugt, der als Einziger der Gianfrancescos unverheiratet war. Er ahmte die Komiker nach, die er im Radio hörte. Großmutter Gianfrancesco winkte mit ihrer langen, dünnen, nach oben gewandten Hand, die so gar nicht zu ihrem rundlichen Körper passen wollte, und zeigte mit ihr auf den Teller des Mädchens, um sie zum Essen zu ermuntern. Rita schob das Essen auf dem Teller hin und her, aß jedoch nur sehr wenig. Ob es nun an den Medikamenten für ihre Nerven oder an der Anspannung lag – jedenfalls hatte sie ein komisches Gefühl im Magen. Hin und wieder stellte sich eine flaue Übelkeit bei ihr ein, die dann so manche Mahlzeit vorzeitig beendete. Doch Rita kümmerte sich nicht darum.
Die Siebzehnjährige war viel zu beschäftigt, um an sich selbst zu denken. Ihre Freizeit nutzte sie zum Geldverdienen. Sie gab weiterhin Unterricht im Tambourstockschwingen und arbeitete außerdem in einer Fabrik, die Kerzenständer für den liturgischen Gebrauch herstellte. Jede Woche sandte Rita ihrer Mutter, die sich bereits seit einem Monat in Philadelphia aufhielt, pflichtbewusst einen Dollar ihres Einkommens.
Ritas Onkel konnte es sich nicht verkneifen, darüber einen Kommentar abzugeben. „Wann kommt denn deine Mutter nach Hause?“, fragte Onkel Pete mit halbvollem Mund. Rita zuckte am anderen Ende des Tisches nur mit den Schultern. „Warum kommt denn diese faule Frau nicht nach Hause?“, schob Pete nach, während er kichernd die Gabel in die rote Masse auf seinem Teller stieß. „Das ist eine tolle Sache – du arbeitest und schickst ihr Geld, während sie in Philadelphia Urlaub macht.“
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