Später überredete ein Priester Mae, Rita wieder in der St. Antonius-Schule anzumelden. Doch im folgenden Jahr kam es zu einem neuen unerfreulichen Ausscheiden. Am Ende einer Weihnachtsfeier verteilten die Nonnen an Rita und ihre Mitschülerinnen Spielzeug. Die Kinder packten die Geschenke aus und fertigten aus dem Einwickelpapier kleine Papierspielzeuge. Zur Freude der Mitschüler wedelten sie damit herum. Als Ritas Name aufgerufen wurde, trat sie vor, um ihr Geschenk abzuholen.
„Ich bekam nun dieses Jo-Jo. Es war alt und zerkratzt und hatte Knoten in der Schnur – man konnte dieses Ding gar nicht benutzen. Dann ging ich nach Hause. Meine Mutter fragte mich, wo ich das Jo-Jo herhatte. Als ich ihr erzählte, dass die Schwester es mir gegeben hatte, war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“
Mae und Rita eilten zum Pfarramt der St. Antonius-Kirchengemeinde, wo Mae dem Pfarrer gründlich die Meinung sagte. Sie betrachtete das gebrauchte Geschenk als eine Demütigung – und ihr Kind ließ sie von niemandem demütigen. Bevor sie das Pfarramt verließ, meldete sie Rita zum letzten Mal von der St. Antonius-Schule ab.
Das Stigma der Scheidung sollte Mae aber bald auch von der Kirche trennen, die doch so lange ihre Stütze gewesen war. Da sie seit ihrer Scheidung nicht mehr gebeichtet hatte, wurde sie von ihren Freunden ermuntert, bei einem Missionar, der in der Pfarrei auf Besuch war, das Bußsakrament zu empfangen. Als Mae die Sünde der Scheidung beichtete, „ging der Priester an die Decke“. „Was haben Sie getan?“, tobte er. „Sind Sie sich bewusst, dass Sie sich mit der Scheidung selbst exkommuniziert haben?“
„Anstatt ihr gütig und liebevoll zu begegnen, ging er hart mit ihr ins Gericht!“, sagte Mutter Angelica. „Er gab ihr nicht einmal die Chance, darauf hinzuweisen, dass sie nicht wieder geheiratet hatte und die Gebote der Kirche hielt.“
Mae stürmte aus dem Beichtstuhl und ging zehn Jahre lang nicht mehr zur Kirche.
Ungefähr zur selben Zeit scheiterte ihr Geschäft. Kunden, die ihre Kleidung abholten, versprachen, in der nächsten Woche zu bezahlen, doch das Geld blieb meistens aus. Mae war zu stolz, zu ihrer Familie zurückzukehren. Mae und Rita kamen nur mit Mühe über die Runden. Manchmal gab es zum Abendessen für beide nur ein Stück Brot mit Wurst, das sie sich teilten. Fest entschlossen, ihr Ideal der Selbständigkeit hochzuhalten, lehnte Mae es ab, die Gianfrancescos um ein Almosen zu bitten, ganz gleich, wie widrig die Umstände auch sein mochten.
Für die Außenwelt schien Mae Rizzo der Inbegriff an Zuversicht zu sein. Noch immer trug sie ihre eleganten Hüte und hielt die etwas herrische Fassade aufrecht, die jeden Fremden auf Distanz hielt. Alle, die sie kannten, erinnern sich an sie als eine hinreißende Geschichtenerzählerin. Sie konnte die Aufmerksamkeit des Publikums fesseln, wobei es egal war, welche Geschichte sie gerade erzählte. Ihre Tochter hatte dieses Talent geerbt. Doch im Gemüt wurde Mae Rizzo krank. Um das Jahr 1934 brachten sie Armut und eine chronische Depression beinahe um den Verstand. Vor ihrer fassungslosen elfjährigen Tochter brach Mae dann zu Hause in Tränen aus, jammerte über das Leben, das sie ihrem Kind zumutete, den Mangel an Bildung, der Ritas Berufsmöglichkeiten beschränken würde und über den Ehemann, der ihr Unrecht angetan hatte. Drei Jahre nach der Scheidung war Mae noch immer außerstande, John Rizzo aus ihrem Herzen zu entreißen. Wenn sie ihn nur mit einer anderen Frau sah, wurde sie schon wütend.
John Rizzos neue Partnersuche machte Maes Depressionen nur noch schlimmer und rief düstere, verheerende Gedanken bei ihr hervor. „Ständig drohte sie mit Selbstmord“, verriet Mutter Angelica, „und wenn ich von der Schule nach Hause kam, wusste ich nie, ob ich sie lebend oder tot antreffen würde. Ich konnte nicht mehr lernen oder mich konzentrieren.“
Für Rita hatten die ständige Sorge um Maes Gemütsverfassung und der endlose Kampf ums Überleben jede Beziehung zur Außenwelt unmöglich gemacht. Das tief in ihr sitzende Gefühl, dass sie selbst irgendwie zur Situation ihrer Mutter beigetragen hätte, verstärkte nur noch ihre Anhänglichkeit an Mae, auf die sich ihr ganzes Augenmerk richtete. „Einen Großteil der Zeit passte ich nur auf sie auf“, erzählte mir Mutter Angelica. „Deshalb hatte ich auch nie Freunde und spielte auch nie mit Puppen. Für mich war das Leben bitterernst.“
Die Rollen wurden vertauscht. Rita wurde für Mae zur Mutter und zur emotionalen Pflegerin. Mit elf Jahren, kaum fähig über das Armaturenbrett zu schauen, fuhr Rita bereits mit Maes Auto, um den Kunden ihrer Mutter die gestärkte Kleidung auszuliefern und an Samstagen die Zahlungen einzukassieren. Manchmal brachte sie sogar einen Gewinn mit nach Hause. Dies wurde dann in der Stadtbibliothek gefeiert, wo Mae Bücher wälzte und Rita in Comics schwelgte und die mitgebrachten Karamellbonbons genoss. Doch in den meisten Fällen kehrte das Mädchen mit leeren Händen von ihren Auslieferungsfahrten zurück, und dann flossen bei Mae die Tränen. Rita stand der Traurigkeit ihrer Mutter völlig hilflos gegenüber.
„Wenn mich der Herr nicht herausgezogen hätte, dann wäre es nur ein unglückliches Leben gewesen“, bemerkte Mutter Angelica nachdenklich. „Nie sah ich, dass sich etwas änderte. Es kam mir vor, als sei ich so geboren worden und als würde ich auch so sterben. Ich war nicht verbittert, ich hatte nur resigniert.“
Und dann drang das Übernatürliche zum ersten Mal in Rita Rizzos Leben ein. Das schmächtige Mädchen wollte nach einem Besuch beim Zahnarzt in der Innenstadt wieder mit dem Bus nach Hause fahren. Sie musste eine breite Straße überqueren, um ihren Bus zu erreichen. Sie schaute nach rechts und nach links, über ihre Knöchel hingen ausgeleierte Socken. Rita lief geradewegs auf den Mittelstreifen der Straße zu, als eine Frau aufschrie. Sie blickte flüchtig über ihre rechte Schulter zurück und bemerkte zwei Autoscheinwerfer, die direkt auf sie zukamen. Wie erstarrt blieb sie stehen. Das Motorengeräusch wurde immer lauter. Nur noch Sekunden bis zum Aufprall, Rita schloss ihre Augen, gelähmt vor Angst.
„Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, als hätten zwei Hände unter meine Arme gegriffen, mich emporgehoben – ich kann es jetzt, wenn ich darüber spreche, fast immer noch spüren – und mich auf die Verkehrsinsel gestellt, wo die Autos parkten“, erzählte mir Mutter Angelica mit einem fast ehrfürchtigen Flüstern. Sie bemerkte, dass die Passanten sich über das Unglaubliche wunderten, das sie gesehen hatten und sie anstarrten.
Als Mae am nächsten Tag mit dem Bus fuhr, berichtete ihr der Fahrer, dass er gestern „ein Wunder“ miterlebt und noch nie „zuvor jemanden so hoch emporspringen“ gesehen habe. Mutter und Tochter schrieben dieses „Hochheben“ einer Gnade zu, die sie in einem sonst so trostlosen Zeitpunkt ihres Lebens berührt hatte.
Als die vierzehnjährige Rita um das Jahr 1937 die High School besuchte, konnten sie und ihre Mutter es nicht mehr alleine schaffen. Der finanzielle Druck zwang sie, in den Haushalt der Gianfrancescos zurückzukehren, wo noch immer Großmutter, Großvater, Onkel Pete und Onkel Frank wohnten. Doch das Heim war nun nicht mehr dasselbe. Anthony Gianfrancesco hatte einen Schlaganfall erlitten. Zuvor hatte er einen Streit mit einem Gast, geriet in Wut und verlor die Beherrschung. Halbseitig gelähmt, humpelte er mit einem Stock im Haus herum. Sein Zustand wurde durch sein ohnehin heißes italienisches Temperament noch verschlimmert. Dadurch wurden die Ängste der im Haushalt lebenden Personen erst recht geschürt. Aber trotz dieser Probleme und Maes Stolz, der durch die unvermeidliche Rückkehr verletzt worden war, konnten sie und Rita doch wenigstens mit regelmäßigen Mahlzeiten und einem Dach über dem Kopf rechnen.
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