Am 6. Februar 1943 wurde eine Röntgenaufnahme von Ritas Magen gemacht, vermutlich um die Heilung zu bestätigen. In einem Brief an Monsignore Habig vom 19. März 1943 beschrieb der Arzt Dr. Wiley Scott das Mädchen als „eine neurotische Frau mit einer Mentalität, die jederzeit offen ist für Suggestionen“. Wie Mutter Angelica selbst zugab, litt sie zu dieser Zeit zwar an einer bestimmten Form der Neurose, doch ihr cholerisches Temperament und ihr starker Wille schienen indes kaum anfällig für solche äußeren Einflüsse zu sein.
Dr. Scott argumentierte, dass seine Änderungen an Ritas Korsett im Mai 1942 eine „mentale Suggestion“ hervorgerufen hätte, weshalb sie meinte, ihr Zustand hätte sich verbessert. Das war nicht gerade überzeugend, denn sonst hätte sich Rita wohl weder darüber beklagt, dass ihre Schmerzen acht Monate später noch schlimmer wurden, noch hätte sie die Dienste von Rhoda Wise in Anspruch genommen, um durch ein Wunder geheilt zu werden. Es wäre auch schwer vorstellbar, dass eine bloße „mentale Suggestion“ die Kraft hätte, eine verfärbte Unterleibsgeschwulst zu beseitigen.
Gegen Ende seines Briefes verwarf Dr. Scott die Möglichkeit einer Heilung, wobei er eindeutig feststellte, dass „keine anatomische Veränderung im Röntgenbefund vom 6. Februar 1943“ vorhanden sei. Doch eine solche Diagnose ist zu bezweifeln. Denn Dr. Scott widersprach sich selbst zuvor im gleichen Brief, als er nämlich schrieb: „Ich hatte mir die Röntgenbilder angesehen, die von ihr zuerst im Mercy Hospital gemacht wurden. Die Aufnahmen vom 6. Februar 1943 habe ich nicht gesehen .“ (Hervorhebung als Kursivschrift durch den Autor). Wenn er also diese nach der vermuteten Heilung aufgenommenen Bilder nicht gesehen hatte, wie konnte der Arzt dann Ritas gegenwärtigen Zustand glaubwürdig einschätzen oder ein ehrliches, auf einer Vergleichsstudie beruhendes, medizinisches Gutachten erstellen? Entweder war das nun ein eklatanter Druckfehler, oder aber es deutet alles darauf hin, dass Dr. Scott die Röntgenaufnahmen nach der Genesung niemals zu Gesicht bekam und somit ein Urteil abgab, das sich weitgehend auf Ritas emotionalen Zustand und frühere Besuche stützte. Doch da Ritas medizinische Akten vernichtet wurden, gibt es keine Möglichkeit mehr, ein unabhängiges Urteil einzuholen.
„Ich weiß nur, dass ich wieder so viel an Gewicht zunahm, wie ich vorher verloren hatte. Der ärztliche Befund interessierte mich überhaupt nicht. Er war mir egal“, sagte Mutter Angelica. Für Rita war die Heilung eine umwerfende Erfahrung, ein Meilenstein, der ihrem Leben eine ganz neue Richtung gab.
„Als der Herr zu mir kam und mich auf die Fürsprache der Kleinen Blume heilte, hatte ich eine ganze andere Einstellung. Ich wusste, dass es einen Gott gibt. Ich wusste, dass Gott mich kennt und liebt und an mir interessiert ist. Das wusste ich vorher nicht. Nach meiner Heilung wollte ich mich aber nur noch Jesus hingeben und nichts anderes mehr.“
Da sich Rita nicht sicher war, wie sie das tun sollte, wandte sie sich an den heiligsten Menschen, den sie kannte, Rhoda Wise, die für sie zu einem Vorbild an Heiligkeit wurde und sie wesentlich in ihrer Spiritualität beeinflussen sollte. Jeden Sonntag schlossen sich die Rizzos den Menschenmengen an, die das Haus von Rhoda Wise bevölkerten. Dort saß Rita zu Füßen von Rhoda Wise und lernte tatsächlich, wie man heilig wird. Sie erinnerte sich daran, wie sie neben der Mystikerin auf einem „kleinen Schemel saß und ihre Füße hochhielt, weil manche Leute auf die Stigmata drücken wollten“.
Von Frau Wise lernte sie auch, geduldig mit übereifrigen Menschen umzugehen, die manchmal das Objekt der Gnade Gottes mit Gott selbst verwechselten.
Ihr Versprechen, die Verehrung der Kleinen Blume und des Heiligsten Herzens Jesu zu verbreiten, hat Rita eingelöst. Sie verschickte persönliche Briefe, Gebetskärtchen und Herz-Jesu-Medaillen an jeden, der an Frau Wise geschrieben hatte. Einer dieser Briefe vom September 1943 enthüllt die Tiefe der Bekehrung Ritas: „… bevor ich geheilt wurde, war ich eine laue Katholikin. … jetzt liebe ich [unseren Herrn] so sehr, dass es Zeiten gibt, in denen ich meine, sterben zu wollen. Wenn ich an all das denke, was Er für mich getan hat, und daran, wie wenig ich für Ihn tat, dann könnte ich nur noch weinen.“
In ihrem privaten Leben übernahm Rita jetzt eine Reihe von Frömmigkeitsübungen, die in der Rückschau wie eine Generalprobe für das Ordensleben anmuten. Als Dank und zur Erinnerung an ihre Heilung beschränkte sie sich samstags auf Zwieback und Tee. Sie begann mit der Lektüre geistlicher Literatur, wie etwa dem Buch Die mystische Stadt Gottes von Maria von Agreda. Auf ihrem Heimweg von der Arbeit blieb Rita häufig noch im Bus und fuhr am Haus ihrer Großmutter vorbei, um zu der St. Antonius-Kirche zu gehen, wo sie den Kreuzweg betete. Durch den Kontakt zu Rhoda Wise und ihren Wundmalen wurde für sie die Passion Christi zur Realität. Sein Leiden war nicht mehr eine Theorie oder eine Erzählung aus vergangenen Zeiten, sondern sie war reale Gegenwart. An jedem Werktag betrachtete sie das Leiden Christi. Dabei konnte sie durch das aufgenommene Licht ihre eigenen Wunden auf eine ganz neue Weise betrachten.
Im Büro bei Timken stand an der Ecke ihres Schreibtisches ein Bild von Jesus mit der Dornenkrone. Auf den Vorwurf eines Arbeitskollegen, „Werbung für ihre Religion zu machen“, entgegnete sie: „Wenn Sie ein Bild eines Filmstars oder eines von Ihnen geliebten Menschen haben, dann stellen Sie es doch auch auf. Das ist nun eben mein Geliebter, und deshalb bleibt es auch hier stehen.“
Alles deutete darauf hin, dass Jesus ihre große Liebe war. Die einzige mögliche Anfechtung war nur noch ein Mann namens „Adolph“ Gordon Schulte, der in Rhoda Wises Haus wohnte und Rita öfters zum Essen in das Restaurant Purple House in Canton einlud. Die gelegentlichen Ausflüge ließen manche Leute, so auch die Tochter von Rhoda Wise – Anna Mae – vermuten, dass die beiden „miteinander gingen“. Schulte bestritt dies jedoch. „Sie war eine reizende und interessante Person, und man konnte sich nett mit ihr unterhalten“, erzählte er mir. „Aber es war nichts Ernstes, sondern wir waren immer ganz zwanglos zusammen.“
Ritas beste Freundin zu dieser Zeit, Elsie Machuga, stimmte dem zu: „Ich glaube, er traf sich gerne mit ihr und brachte ihr auch immer wieder Devotionalien mit. Aber sie war zu jedem freundlich.“
Über ihr Verhältnis zu Schulte befragt, sagte Mutter Angelica ganz offen: „Ich war nie verrückt auf Sex und wollte mich auch nie verabreden. In dieser Hinsicht bin ich ein Eunuch. Es war mir überhaupt nicht wichtig. Das war einfach nichts für mich.“
Nur einmal zeigte Rita in der Öffentlichkeit ihre Zuneigung. Steven Zaleski, der aus Canton stammte und mit Rita seit dieser Zeit bekannt war, erinnerte sich an eine Mission in der Herz-Jesu-Kirche in der Clark Avenue. Als die Gläubigen nach vorne gingen, um den aus Holz geschnitzten gekreuzigten Christus zu verehren und anzubeten, „küsste Rita Ihn auf sein Herz mit großer Inbrunst, sehr persönlich, als ob Er ihr Geliebter wäre“.
In ihrem Schlafzimmer hatte Rita, ganz nach dem Vorbild von Rhoda Wise, einen Altar am Fuß ihres Bettes aufgestellt. Er war mit hellem Stoff bedeckt. Darauf standen zwei große Statuen des Heiligsten Herzens Jesu und der Muttergottes, umgeben von kleinen Bildern des Prager Jesulein, des hl. Antonius von Padua sowie genau in der Mitte der hl. Theresia von Lisieux. Vor dem Altar befand sich eine schlichte Kniebank, auf der Rita in den frühen Morgenstunden betete – eine Gepflogenheit, die ihre Mutter verhindern wollte. Eines Morgens stellte Mae zu ihrem Entsetzen fest, dass unter Ritas Schlafanzug ein Bußgürtel herausschaute.
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