Diese beiden Spielsachen, eine Puppe und ein Wollbär, die beide ihrem Kinde gehörten, lagen damals, als Nelly Browns rücksichtslose Energie sich schicksalswendend in ihr Leben einmischte, auf der Decke des Hotelbetts, darin man an Stelle Trautchens das fremde Kind fand.
Ihr Blick hob sich wie mühsam von dem Bild, das ihr ein gefährliches, unlösbares Rätsel schien, das grausam alte Erinnerungen mit unheimlicher Deutlichkeit heraufbeschwor.
Sie dachte, das eine der beiden Kinder, die man vertauschte wie Gegenstände oder wie arme hilflose Tiere, war lange, lange tot, das andere aber war inzwischen ein grosses Mädchen geworden und ihr ans Herz gewachsen.
So sehr, dass sie es liebte wie ein eigenes Kind.
Nein, vielleicht doch nicht ganz so!
Es war da immer noch ein Etwas in ihr, das sich nicht ausgab, das aber in einer unnennbar starken, in einer unbeschreiblich beseligenden Liebe hingeströmt wäre über das Kind, das sie einst unter dem Herzen getragen.
Wie einen geheimen Schatz trug sie das Gefühl ständig mit sich herum, wenn sie auch wusste, sie würde den geheimen Schatz ihrer Mutterliebe niemals verschwenden können.
Drüben in England lag irgendwo ein kleines Grab, das sie nie gesehen und nie sehen würde, von dem man wahrscheinlich überhaupt nichts mehr sah, und darin ruhte das Kind ihrer Schmerzen und wehen Erinnerungen.
Das Kind, das den Platz der Toten einnahm, war gesund und lebenskräftig wie ein derber Junge.
Ihr Auge suchte das junge Mädchen, das eben Kusshände zu Lamprecht Overmans hinüberwarf und ihm zurief: „Grosspapa, wie reich hast du mich beschenkt! Du bist der liebste und beste Mann auf der ganzen Welt, glaube es mir. Dumm eingerichtet ist es nur, dass wir so nahe miteinander verwandt sind!“
Lamprecht Overmans schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich meine, das wäre doch gerade das Gescheiteste.“
Der rote Mund lachte sein berückendes Lachen, zeigte ein wenig die wundervollen Zähne.
„Grosspapa, überlege nur, wenn wir nicht so nahe miteinander verwandt wären, könnten wir uns doch heiraten!“
So komisch es klang und obwohl alle lachten, taten die drolligen Worte Karola weh. Ihr fiel eine kleine Szene ein von damals, ehe sie vor zwölf Jahren mit ihrem kränkelnden Kinde nach St. Blasien abgereist. Da hatte es auf dem Schosse Lamprecht Overmans’ gesessen und gepiepst: „Opapa, ich habe dich lieb, und wenn ich wiederkomme, huste ich gar nicht mehr, und wenn du willst, heirate ich dich!“
Die Nurse, Hedwig Ritter, musste das damals dem Kind einstudiert haben.
Die Szene war ihr ganz entfallen, nun, durch die Worte des jungen Mädchens, erinnerte sie sich plötzlich daran.
Karola unterdrückte einen Seufzer, es kam in der letzten Zeit auch alles zusammen, um die Vergangenheit wieder grausam lebendig zu machen.
Ihr Mann trat jetzt zu ihr.
„Ich wollte vorhin deine Andacht vor dem Bild nicht stören, jetzt muss ich mich aber doch überzeugen, was dich bisher so fesselte, dass du deine ganze Umgebung darüber vergassest.“
Er erblickte das Bild zum ersten Male, da es bis vor wenigen Minuten noch völlig verhängt dagestanden, und auch er schrak zusammen, denn auch er sah sofort, das war Trautchen an jenem Tage, da sie zum letztenmal Babette Kempen hiess.
Sie musste es sein, eine solche Aehnlichkeit schien ihm unglaublich, unmöglich.
In seinem Kopf entstand ein wirres Durcheinander und Furcht drängte sich an ihn heran, unheimliche, seltsame Furcht.
Welche Absicht barg sich hinter diesem Geschenk? Was bezweckte sein Vater damit?
Es war doch keine harmlose Weihnachtsgabe, es musste sich irgendein grausamer Sinn dahinter verstecken! Ein Sinn, der allerdings unverständlich ward, wenn man beobachtete, wie innig der alte Mann eben wieder das Mädelchen ans Herz drückte, das vor Weihnachtsfreude ganz aus dem Häuschen war.
Die Augen des Ehepaares fanden sich in banger Frage und sie kamen sich vor, wie zwei Menschen, die ein geheimes Verbrechen einte, die sich seit langem in Sicherheit gewiegt und nun plötzlich merkten, die Sicherheit war trügerisch.
Arm in Arm tauchten der Aelteste und die Jüngste der Familie hinter ihnen auf und Lamprecht Overmans lachte: „Nun, Karolachen, ist die Ueberraschung gelungen? Aber was braucht man dich erst noch zu fragen, ich habe ja beobachtet, du hast dich förmlich in das Bild hineingekniet. Komisch und verblüffend ist die Aehnlichkeit mit unserm Herzenskind von einst, nicht wahr? Ich habe es unserem Trautchen, die das Bild übrigens zuerst bei Meifinger entdeckte, gleich erklärt, so hätte sie einmal ausgesehen, genau so. Und es ist schnurrig zu denken, irgendwo existiert jetzt ein wildfremder, molliger Balg und sieht so aus, wie unser dickes Strampelchen damals aussah, als ich es mit dir aus Davos abholte. Weisst du noch, Karolachen, wie ich mich damals freute über unseren gesund gewordenen Liebling? Und hauptsächlich wegen der Aehnlichkeit kaufte ich das Bild und dachte mir gleich, es müsste dir gefallen und dir Eindruck machen.“
Karola war es, als gleite eine grosse Bürde, die man ihr aufgepackt, von ihren Schultern, eine Bürde, viel zu schwer für sie.
Wie harmlos und einfach die Erklärung war, an deren Stelle sie ein schweres, unlösbares Rätsel gewittert.
Sie bemerkte, auch ihr Lebensgefährte atmete erleichtert auf, aber als sie sich später beide allein befanden, begannen sie darüber nachzugrübeln, welch ein Zufall es doch war, dass der Maler nicht allein ein Modell gefunden, das der einstigen kleinen Babette Kempen auf ein Haar glich, sondern dass auch das gesamte Drumherum dem Milieu ähnelte, in dem der Umtausch der Kinder geschah.
„Die Puppe und den Wollbären von damals habe ich sogar aufgehoben,“ sagte Karola leise, ganz leise zu ihrem Manne, als fürchte sie, jemand könne sie hören, obwohl schon alle im Hause schliefen.
Ihr Mann zuckte die Achseln.
„Es ist alles sehr eigentümlich und sonderbar, mein Lieb, aber wir müssen uns schliesslich wohl doch an die Erklärung vom Zufall halten. Man hört gelegentlich immer wieder von Zufällen, die unglaubhaft klingen, die in Romanen und Theaterstücken gesucht erscheinen würden. Ich meine, wenn man es genau überlegt, so ist das Merkwürdigste bei allem nur die Aehnlichkeit des Kindes auf dem Bilde mit —“ Er zögerte flüchtig und vollendete dann: „Mit dem unseren! Weshalb soll ein Maler zum Beispiel so ein Püppchen, statt in ein kleines, nicht einmal in ein grosses Bett stopfen, in dem es malerisch vielleicht viel mehr zur Geltung kommt? Und die Spielsachen? Puppe und Wollbär sind ein paar so landläufige, beliebte Spielsachen, dass sie das am wenigsten Auffallende sind. Zum kleinen Mädel gehört die Puppe und sowohl Mädel wie Jungen schwärmen für Wollbären.“
Karola liess sich beruhigen. Sie sah alles ein, was ihr Mann erklärte.
Als dann das Bild in ihrem sogenannten Damenzimmer hing, wo sie sich gern aufhielt, stand sie oft davor und ihre Gedanken flogen, wie gescheucht von gebietender Hand, in die Vergangenheit zurück.
Lamprecht Overmans meinte, das Kind auf dem Bilde sähe dem gesundeten Trautchen ähnlich, das er in Davos wiedergefunden. Aber er hatte ja vorher nur ein kränkliches Blassgesicht gekannt. Sie wusste dagegen genau, das Kind auf dem Bilde sah der kleinen Babette Kempen ähnlich, zum Verwechseln ähnlich, aber ein volles Jahr früher.
Heisse Tränen tropften oft aus ihren Augen vor dem Bilde nieder, und durch das Bild ward so vieles in ihr wieder aufgewühlt, was am besten in dem Grabe bei ihrem Kinde mitaufgehoben wäre.
Bei ihrem Kind, das erst hatte sterben müssen, damit sie von Lamprecht Overmans als Frau und Mutter geachtet wurde.
Lamprecht Overmans hatte eine Tapetenfabrik übernommen oder richtiger übernehmen müssen, um nicht zuviel zu verlieren, denn der bisherige Inhaber der Fabrik war sein Schuldner gewesen.
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