Aber das Bild bewies es.
Am nächsten Tage hing es schon in seinem Schlafzimmer. Hier sollte es bleiben bis zum Weihnachtsabend, wo es hinübergeschafft werden würde in das Nachbarhaus, um sich den anderen Geschenken für die Schwiegertochter beizugesellen.
Trautchen durfte den Eltern nichts von dem Bild verraten, damit die Ueberraschung vollkommen würde.
Er aber erfreute sich morgens und abends an dem Anblick des grossen Gemäldes, erfreute sich an dem im weissbezogenen Bettzeug hockenden molligen Mädelchen mit dem verwirrten dunklen Haar und dem halb offenen Mäulchen. Das Hemdchen war über die runden Schultern gerutscht und die niedlichen, grübchenbestickten Hände lagen gleich rosigen Blüten auf der schneeigen Decke.
Der alte Lamprecht Overmans hielt wahre Andachtsstunden vor dem Bilde ab und noch oft sann er darüber nach. Wie war es nur möglich, dass dieses Kind, das der Maler so lebenswarm auf die Leinwand gebannt, dem Trautchen von einst so fabelhaft glich?
Er schmunzelte auch oft in sich hinein in der Vorfreude, wie Karola die Augen aufreissen würde vor Staunen, was er für sie gefunden.
Er schenkte ihr gern, war stets dazu bereit, sie war ihm lieb und wert geworden, seit er sich nicht mehr darüber aufregen und grämen brauchte, dass seine einzige Enkelin ein so jämmerliches Angstpflänzchen war.
Und das von so vielen, vielen Menschen heissersehnte Christfest kam heran.
Weiches, winterliches Dämmern setzte früh ein, breitete dunkle Teppiche aus, über die der Abend heranschritt.
Der schönste Abend des Jahres!
Der Abend, an dem die Ruhelosesten im Heim bleiben, wo die Bösen gütig werden und die Harten milde.
Und die Sterne zogen herauf, standen wie herrlich geformte Silberlichter droben am Abendhimmel und Glockengrüsse flogen über die in tiefem Schnee gebettete Stadt.
Von hier und dort klang Gesang.
Alte Weihnachtslieder wurden wach, in den Häuschen der Armen und in den bequemen Wohnstätten der Reichen.
Der Geburtstag des überragendsten Sohnes, den je eine Mutter geboren, ward gefeiert von Alt und Jung, von Gross und Klein, und die ihn nicht mitfeierten, das waren die Aermsten der Armen.
Die Sterne schimmerten und gleissten geheimnisvoll, wie sie dereinst schimmerten und gleissten vor mehr als zweitausend Jahren über der Hütte, in der mit dem Jesuskind die wundervollste, selbstloseste Menschenliebe geboren wurde.
Die Liebe, die alles duldet, leidet und trägt, die niemals unwillig und müde wird.
Eine Liebe unirdischer Art.
Wie Sphärenmusik schien es durch das All hinzuströmen, in himmlischen Chören schien es zusammenzufliessen, beseligend und herzerschütternd:
Stille Nacht, heilige Nacht!
Ohne die Worte zu hören, fühlte und empfand man es inbrünstig, die stillste und heiligste Nacht lag über dem dunklen sternendurchflimmerten Land und die Liebe lächelte ihr heiliges, versöhnendes Lächeln, die grosse schöne Menschenliebe, die so oft, so traurig oft, achtlos überrannt wird von Selbstsucht und Kaltherzigkeit.
„Ich freue mich
ganz fürchterlich!“
sang Traute Overmans nach einer selbstkomponierten Weise und zog sich dabei in ihrem reizenden Mädchenstübchen um.
Grosspapa hatte es gern, wenn sie recht hübsch aussah, und so wählte sie aus ihrer reichhaltigen Garderobe ein weisses Tuchkleid, das ihr besonders gut stand, und lächelte sich vergnügt im Spiegel an, während sie sich immer wieder von neuem ihre Komposition mit dem selbstverfassten Text vortrug, der kurz und bündig über ihre Stimmung Aufschluss gab.
Wenn man sechzehn Jahre und gesund ist, und ausserdem von seiner Umgebung geliebt und verwöhnt wird, so ist das wohl allein schon Grund genug, immer wieder zu verkünden:
Ich freue mich
ganz fürchterlich!
Wenn aber noch die Heiligabendfreude dazukommt und die Vorfreude auf einen reich besetzten Gabentisch, dann ist man sogar berechtigt, sich „fürchterlich“ zu freuen.
Ein Stündchen später, nachdem die Dienerschaft der beiden Häuser beschenkt worden war und man gegessen hatte, baute man sich gegenseitig auf und Lamprecht Overmans bedeckte alles, was die Jüngeren von ihm erhielten, mit Tüchern.
Nachdem der grosse Baum angezündet war in Günters Wohnzimmer, setzte sich Karola an das Piano und begann das uralte Marienlied zu spielen:
Es ist ein Ros’ entsprungen aus einer Wurzel zart — —
Ihre helle Stimme sang das Lied mit und Lamprecht Overmans sann, wie heimatlich warm war doch dieses Haus, darin seine Kinder lebten.
Alle drei waren sie seine Kinder: Günter, Karola und Trautchen.
Früher hatte er die weichen Gefühle, wie er sie jetzt oft empfand, gar nicht gekannt, Aber er, dem früher nur das Geschäft und das Geldverdienen Befriedigung gaben, stellte jetzt das Familienleben über alles.
Konnte es denn zum Beispiel etwas Schöneres und Wünschenswerteres auf der Welt geben, als im sorglosen Heim mit geliebten Menschen das Christfest zu feiern?
Wer ihm früher gesagt, er würde einmal so denken, den hätte er ausgelacht.
Sein Blick suchte das junge Mädchen, das neben dem Piano stand und seine Zärtlichkeit legte sich wie ein weicher, schützender Mantel um die schlanke, aber nicht schmale Gestalt.
Sein Blick suchte die grauen Augensterne in dem rosigen Gesicht.
Und da hoben sich die Lider mit den unwahrscheinlich langen schwarzen Wimpern und Trautchen erwiderte den Blick mit Wärme.
Sie tat dem jungen Herzen immer von neuem wohl, die Güte des alten Mannes, die stets bereit war.
Langsam, wie magnetisch von seinem Blick angezogen, ging Trautchen auf ihn zu, flüsterte verhalten dicht an seinem Ohr: „Ich habe dich über alles lieb, Grosspapa!“
Günter Overmans sah, wie sein Vater Trautchen küsste und Karola sah es, flüchtig aufblickend, auch.
Sie waren es beide gewöhnt, dass der alte Mann und das junge Mädchen manchmal wie Verliebte taten, aber heute fiel es ihnen doch wieder besonders auf.
Beide empfanden es überzeugend stark von neuem, was sie ja eigentlich längst wussten: Das Glück, den Frieden ihres Heims, ja ihre ganze Existenz hielt das junge Geschöpf in seinen kleinen kraftvollen Händen, das fremde Reis auf ihrem Stamm, das fremde Schwarzwaldmaidle, das eine echte Overmans schien.
Das Weihnachtslied, das einst vor vielen Jahrhunderten zu Ehren der Mutter des Heilands entstanden, war verklungen, Tücher wurden von den bis jetzt dahinter versteckten Geschenken gezogen und jeder ging an seinen Gabentisch.
Behaglich beschaute sich Günter Overmans, was ihm seine Lieben beschert, behaglich betrachtete auch sein Vater, was man für ihn zusammengekauft, und Freudenschreie, die ein paarmal die Grenze zum Indianergeheul überschreiten wollten, ertönten aus der Richtung, wo sich Trautes Tisch befand. Karola aber stand sehr blass vor ihrem Tische.
Sie war keines Wortes fähig.
Sie starrte regungslos dorthin, wo gewissermassen als Hintergrund vieler anderer Geschenke ein grosses Bild aufgebaut war.
Sie starrte das dralle Mädelchen auf dem Bilde an und ihr Denken verwirrte sich.
So hatte doch die kleine Babette Kempen ausgesehen, als man sie ihr an Stelle ihres eigenen Kindes in das Freiburger Hotelbett gelegt! Genau so hatte die derbe Niedlichkeit damals ausgesehen, als sie erwachte, an jenem unglückseligen Tage, da sie selbst leichtsinnig genug war, ihr eigenes Kind für kurze Zeit unter der Obhut der alten Tänzerin Nelly Brown zurückzulassen. Um mit Günter das alte Freiburg zu durchwandern.
Sie versuchte zu überlegen, wie es nur möglich war, dass es jetzt, viele Jahre später, ein Menschenkindchen gab, das ganz genau so aussah wie Babette damals. Und war es nicht ein sonderbarer Zufall, dass es einem Maler einfiel, dieses kleine Mädel in ein so grosses Bett hineinzumalen, und ging es nicht über jeden Zufall hinaus, dass auf der Bettdecke, achtlos hingeworfen oder von müden Kinderhändchen beiseite geschoben, eine kleine Puppe lag und ein Wollbär?
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