»Gut«, sagte Ned, fast gleichgültig. »Kommt mit in die Küche, ihr beiden.« In der Tür blieb er stehen und fügte hinzu: »Hugh, bring den Examiner mit.«
Die Zeitung war offen über dem Sessel ausgebreitet, in dem ich meine Abende zu verbringen pflegte, beim Feuer, und die Seite, auf die mein Blick fiel, sah irgendwie fremd aus, eine Spalte neben der anderen über ein einziges Ereignis, einige Abschnitte waren in dickeren Buchstaben gesetzt als die übrigen. Ich zog mein Brillenetui aus der Brusttasche und setzte die Brille auf. Einer der kühn hervortretenden Abschnitte schwamm in mein klarer gewordenes Blickfeld, wie ein Fisch, der aus trübem Wasser an die klare Glaswand seines Aquariums schießt.
»Sie waren schmutzig, zerlumpt, geschwächt und zitterten«, las ich, »als ob die Armenfürsorge die Skelette aus ihren Krankenstationen auf die Kais von Dublin geschafft hätte. Sie trugen die seltsamste und buntest zusammengewürfelte Kleidung, und doch hatten die meisten von ihnen Geld, und es wurde auch eine große Anzahl von Revolvern gefunden, die sie auf der Flucht weggeworfen hatten. Der Anblick, den sie boten, war eine seltsame Mischung aus Wildheit und Erbärmlichkeit. Die Menge der rüpelhaften Zuschauer, die das Schauspiel angelockt hatte, stieß vereinzelte Rufe rebellischen Trotzes aus, die diese geschlagene und hoffnungslose Fenier-›Armee‹ jedoch nicht beachtete.«
Gnädiger Gott, dachte ich, was ist das für eine Katastrophe? Und ich faltete die Zeitung wieder zusammen, um die erste Seite lesen zu können. Dort gab es zwei Artikel, jeder mit seiner Schlagzeile in großen, schwarzen Lettern, und keine von beiden sagte mir etwas, und ich konnte auch keinen Zusammenhang zwischen beiden erkennen. Ein Artikel behandelte die Festnahme von über hundert Rebellen in den Docks von Dublin, die soeben von der Fähre aus Liverpool an Land gegangen waren. Der andere Artikel berichtete über den »gewagten« und »verbrecherischen« Versuch der irischen Fenier, Chester Castle zu besetzen. Und das verblüffte mich nun wirklich, denn das einzige Chester, von dem ich je gehört hatte, lag irgendwo in England. Ich vergaß meinen Auftrag, ließ mich in den Sessel fallen und schob mir die Brille höher auf die Nase.
Vage sah ich in meiner Vorstellung eine Burg wie die, die Sage und Lied uns beschert haben, massiv, von Türmen gekrönt, in einsamer Eminenz, während wilde Wogen sich an den Felsen ihrer Fundamente brachen. Was hatte solch eine Zitadelle mit den düsteren Vogelscheuchen auf den Kais von Dublin zu tun?
Freundlicherweise lieferte der Examiner mir eine Erklärung, wie er das schon so oft in der Vergangenheit bei weniger wichtigen Fragen getan hatte. »Hätte die Konspiration ihr kompliziertes Ziel erreicht«, teilte er mir mit, »dann wären die Folgen äußerst schwerwiegend gewesen. Mindestens 10000 Gewehre und ein großer Vorrat an Munition befinden sich im Arsenal der Burg. Die Rebellen, die fast 1000 Mann stark waren, hatten sich in den vergangenen Tagen in Liverpool versammelt, das 15 Meilen nördlich von Chester liegt, und sie hatten den sorgfältig entwikkelten Plan, in Holyhead die Fähre an sich zu bringen und die Eisenbahn und andere Kommunikationsmittel zu zerstören. Drogheda an der irischen Ostküste war ihr geplanter Zielhafen, und in dieser Stadt ist von der Polizei eine große Anzahl Fenier verhaftet worden.«
Stärker noch als meine Erkenntnis einer Katastrophe waren meine Gefühle von Verwirrung und Furcht. Wir hatten natürlich immer gewußt, daß es irgendwo, weit entfernt von den Hügeln von Cork, ein Direktorat oder einen Obersten Rat gab, oder wie immer dieses Gremium sich nun, jeden Monat anders, gerade nennen mochte. Und wir hatten gewußt, daß es uns auf irgendeine Weise, vielleicht durch Zauberei, mit Waffen versorgen würde. Vielleicht hatten wir in unserer Unschuld angenommen, daß sie aus Amerika kommen würden, riesige Dampfer, bis zum Bersten vollgestopft mit glänzenden, geölten Gewehren. Ich machte mich wieder über den Examiner her, konnte aber dem Gelesenen keinen Sinn entnehmen. Dann fiel mir ein, daß ich ihn schließlich nur in die Küche zu bringen brauchte.
Und so geschah es, daß wir, aus den vertrauten Seiten des Examminer , vom fehlgeschlagenen Überfall auf Chester Castle erfuhren, durch den Waffen für den Aufstand besorgt werden sollten. In den folgenden Wochen lieferten die Illustrated News und ähnliche Zeitschriften ihren englischen Lesern die dazugehörigen Bilder, und Chester Castle war keine romantische Bastion mehr, abgesehen von seinem einen erhaltenen Turm, sondern eine düstere Ansammlung von nützlichen Lagerhäusern und ähnlichem, und unsere Fenier wurden als häßliche, verworfene Bande dargestellt, aus deren Arbeiterjacken Revolverläufe hervorlugten. Für den Moment jedoch war meine Phantasie auf ihre eigenen Produkte angewiesen.
Ned und Bob standen nebeneinander in der Küche, sie hatten die Generalstabskarte auf dem Tisch ausgebreitet und hielten Teetassen in den Händen. Bob hatte seinen Mantel aufgeknöpft, ihn jedoch noch nicht ausgezogen. Ich hielt ihnen die Zeitung hin, aber Ned hob seine Augen nicht von der Karte, es war Bob, der mir die Zeitung abnahm. Es war jedoch offensichtlich, daß Ned ihm bereits das Wesentliche erzählt hatte.
»Soldaten« las Bob laut vor, »wurden in den Stunden vor dem geplanten Überfall mit der Bahn nach Chester geschafft und bezogen Stellung, um jegliche feindliche Handlung der Insurgenten zurückzuschlagen.«
»Hervorragende Stellung«, sagte Ned. »Unsere Jungs hatten nur Revolver. Es wäre ein verdammtes Gemetzel gewesen. Irgendwo steht, daß sie fünftausend Soldaten hingeschickt hatten.«
»Der Tee ist frisch aufgegossen, Hugh«, sagte Bob und übernahm Neds Aufgabe, mich in meinem eigenen Haus in Sicherheit zu wiegen.
»Wußtest du von diesen Plänen, Ned?« fragte ich.
»Wir sollten vor dem festgesetzten Tag bewaffnet werden«, antwortete Ned. »Mehr habe ich nicht gewußt.«
Bob legte, wie um sich zu wärmen, beide Hände um seine Tasse. »Das ist verdammter Unsinn, Ned. Mörderischer Unsinn. Und das müßte dir auch klar sein. Wenn diese Gewehre in Drogheda an Land gebracht worden wären, dann wären sie im Osten verteilt worden. Vielleicht wäre an deinem verdammten festgesetzten Tag Dublin eingenommen worden. Aber die Gewehre hätten niemals den Weg in die Midlands gefunden, ganz zu schweigen von Kerry oder Galway. Reilly, unten in Killarney, scheint sich einzubilden, daß Waffen von irgendwoher in Cahirciveen an Land gebracht werden sollten. Das hätte uns geholfen«, fügte er in einem Tonfall von offenem Sarkasmus hinzu.
»Das hätte es wirklich«, sagte Ned, den Sarkasmus ignorierend. »Vielleicht hat O’Connor deshalb die Küstenwache überfallen. Vielleicht hat O’Connor Befehle ausgeführt, über die wir alle nichts wissen. So arbeitet die Organisation nämlich.«
»Jetzt werden keine Waffen in Kerry an Land gebracht werden«, sagte Bob. »Und O’Connor braucht sehr viel Glück, um mit heiler Haut aus Irland herauszukommen.«
Ich hatte kaum Appetit auf Tee, aber ich goß mir eine Tasse ein, um etwas zu tun zu haben. Ned mochte seine Verdienste als Captain haben, als Teekoch war er dagegen ein Fehlschlag. Schwach und blaß war dieses Gebräu.
»Wir haben noch knapp zwei Wochen Zeit«, sagte Bob. »Und ihr wißt, in welcher Lage wir uns befinden. Kleine Bauern und Landarbeiter mit ein paar Entenflinten.«
»Warum sollte ich nicht wissen, in welcher Lage wir uns befinden? Ich habe schließlich das Kommando über Kilpeder, Bob Delaney, das solltest du lieber nicht vergessen.«
»Ich beneide dich nicht um deinen hohen Rang«, erwiderte Bob. »Was schlägst du vor?«
»Seltsame Frage, Bob. Du weißt doch, was wir vorhaben. Früh am Morgen des Sechsten werden wir die Polizeiwache übernehmen und dann nach Norden marschieren. In Millstreet werden wir uns einer weitaus größeren Streitmacht anschließen.«
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