Leid und Not sind für Malthus außerdem notwendig, um die Herzen der Menschen empfindungsfähiger und menschlicher zu machen, das soziale Mitgefühl zu wecken, all die christlichen Tugenden zu entfalten und Spielraum für die umfassenden Bemühungen der Nächstenliebe zu geben. Der Antrieb aus einem sozialen Mitgefühl lässt oftmals hochrangige Menschen entstehen. Gott lässt Not und Elend nicht nur zu, sondern er hat ihnen einen festen Platz und eine wichtige Funktion in seiner Schöpfung gegeben (vgl. a. a. O., 143–170).
(4) Sozialpolitische und sittliche Forderungen : Mit seiner wirtschaftlichen und theologischen Begründung des Elends und der Not der vielen Armen und Schwachen rechtfertigt Malthus die Gesellschaftsordnung seiner Zeit einschließlich der realen Verteilung der Güter und der Aufspaltung der Bevölkerung in Reiche und Arme . Sozialen Reformen jeder Art spricht er, da sie nach seiner Meinung ja der Naturgesetzlichkeit des Bevölkerungsgesetzes widersprechen, jede Aussicht auf Erfolg ab. Da Armut und Elend gesellschaftspolitisch, ökonomisch und theologisch „in Ordnung“ sind, gibt es für Malthus keinen Grund, die Armen zu unterstützen. Jede Form der staatlichen oder anderen öffentlichen Armenunterstützung – selbst die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Staates – lehnt er folgerichtig rigoros ab. Er fordert nicht nur, dass keine Gesetze mehr zur Unterstützung der Armen beschlossen werden dürfen, sondern verlangt konsequenterweise auch die Aufhebung der seit dem 17. Jahrhundert in England geltenden Armengesetze. Als Konzession an die englische Armenpflegetradition will er höchstens einige Arbeitshäuser (workhouses) mit härtester Arbeit und schlechtester Ernährung bestehen lassen. Alle Maßnahmen, die Armen zu unterstützen und die Not zu lindern, sind zu verbieten. Denn – so Malthus – die Armengesetze bilden die Grundlage dafür, den Armen Unterhaltsmittel zu gewähren. Diese führen nur dazu, dass jedermann einer bequemen Versorgung seiner Familie sicher sein könnte und damit fast jeder eine Familie gründen und unterhalten würde. Somit wäre die heranwachsende Generation frei von dem „tödlichen Frost“ des Elends, und die Bevölkerung würde sich noch rascher vermehren (vgl. a. a. O., 72).
Das natürlichste und naheliegendste Hemmnis für ein übermäßiges Bevölkerungswachstum scheint für Malthus darin zu bestehen, jedermann für seine eigenen Kinder sorgen zu lassen (vgl. a. a. O., 93). Malthus bezieht ausdrücklich die Kinder der Armen in seine Überlegungen mit ein. Seinen allgemeinen Thesen konsequent folgend, lehnt er auch die Unterstützung der Kinder in Not und Elend ab. Malthus befürchtet sogar, dass eine Versorgung der Kinder der Armen die Bevölkerungsvermehrung nur noch mehr anreizen würde. Wenn den Armen die Sorge um ihre Kinder genommen würde, so glaubt er, würden sie nur noch hemmungsloser weitere Kinder zeugen und die Bevölkerung noch stärker vermehren.
Die Wohltätigkeit privater Einrichtungen und Personen lässt Malthus jedoch zu. Die private Wohltätigkeit sei sowieso nicht auszurotten, meint er, und außerdem sei sie ethisch positiv zu bewerten, trotz ihrer fatalen Auswirkungen.
Von der zweiten, überarbeiteten Auflage seines Werkes an verlässt Malthus den Standpunkt des reinen „Laissez-faire“ seiner liberalen Theorie. Malthus schlägt stattdessen vor, die Diskrepanz zwischen dem Bevölkerungswachstum und den Nahrungsmittelressourcen dadurch auszugleichen, dass man der Vermehrung der Menschen bewusst Schranken setzt. Er fordert als Mittel gegen eine hemmungslose Bevölkerungsvermehrung , dass die Menschen sich sexuell enthalten, auf Geschlechtsverkehr verzichten und so jede Zeugung von Kindern ausschließen sollen. Moralische Zurückhaltung (moral restraint) soll damit an die Stelle einer öffentlichen Unterstützung der Armen treten. Sie ist für Malthus das wirksamste Mittel der Armenpflege. Insbesondere die Armen sollen die Eheschließung hinauszögern und nur sehr spät oder am besten gar nicht heiraten. Dadurch sollen der Geschlechtsverkehr und die Zeugung von Kindern unterbunden werden. Durch die Verschiebung seiner sexuellen Bedürfnisbefriedigung soll jeder Mensch dazu beitragen, die Armut zu beseitigen und die Menschheit überlebensfähig werden zu lassen. Sollten solche Präventivmaßnahmen, die dem moralischen Bewusstsein des Einzelnen anheimgestellt werden müssten, versagen, so bleiben als Alternative nach Malthus nur verhängnisvolle Unterdrückungsmaßnahmen. Der Mensch hat nur die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Die Bevölkerung, vor allem die Armen, müsste über die Wirkungen des Bevölkerungsgesetzes und die notwendige geschlechtliche Enthaltsamkeit (sittliche Disziplin) als präventiv mögliche Maßnahme , um Hunger und Not infolge Übervölkerung und mangelnder Nahrungsmittel zu verhindern, aufgeklärt werden.
In den weiteren Auflagen seines Essays betont Malthus immer stärker die Bedeutung des „moral restraint“ für die Verhinderung von Massenelend. Letztlich macht er jedoch immer wieder die Armen selbst für ihre Notsituation verantwortlich, weil sie sich nicht beherrschen könnten, häufig Geschlechtsverkehr hätten und Kinder zeugten. Das Elend trifft die Armen wegen dieser sittlichen Unbeherrschtheit – so sagt Malthus provokant – zu Recht.
6.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit
Malthus löste mit seinen Thesen größte Empörung und massiven Widerspruch aus. Die „Malthus-Debatte“ dauert bis in die Gegenwart an (vgl. Dupâquier 1983; Eger 1985; Turner 1986; Brandenberger 2004; Doering 2005 u. a.). Stichworte dieser heftigen, bisweilen giftigen Debatte sind: malthusianische Falle, Bevölkerungsfalle, Verelendungswachstum, Geburtenüberschuss, Geburtenkontrolle, Grenzen des Wachstums, Hungersnot usw. Vielen erscheinen seine Thesen als überzeugender Beweis für die soziale Kälte und Unmenschlichkeit eines rein auf Nutzen ausgerichteten egoistischen Denkens, das für Kapitalisten typisch sei.
„Die Gegner von Malthus haben das Werk zum Teil offensichtlich nie in der Hand gehabt, und es gibt in der Neuzeit wohl keinen zweiten Gesellschaftstheoretiker, dessen Aussagen so verkürzt, einseitig und verfälscht worden sind“ (Eger 1985).
Malthus hat mit seinen pessimistischen und – im Grunde – sehr anspruchsvollen Thesen in jedem Fall eine intensive Auseinandersetzung über das Problem der Bevölkerungsvermehrung und die sozio- ökonomische Situation der Armen in der industriellen Gesellschaft und in der Welt erzwungen. Sehr ausführlich hat sich in der Tradition der Sozialen Arbeit Christian Jasper Klumker mit Malthus und seinen Thesen auseinandergesetzt (vgl. 2.3). Hans Scherpner (vgl. 3.2) hat sich in seinem Buch „Theorie der Fürsorge“ ebenfalls mit den Armutsthesen von Malthus befasst (vgl. Scherpner 1974, 114–118).
Das Bevölkerungsgesetz von Malthus hat sich im Sinne eines mathematisch exakten Gesetzes als Irrtum herausgestellt. Die Diskussion über das Bevölkerungswachstum in der Welt und fehlende Nahrungsmittelressourcen ist heute jedoch intensiver und existenzieller als in der Zeit, in der Malthus gelebt hat. Die Frage, ob Arme vom Staat unterstützt werden sollen und, wenn sie unterstützt werden sollen, in welcher Höhe diese Unterstützung geleistet werden soll beziehungsweise kann, gehört zu den umstrittensten sozialpolitischen Problemen in vielen Staaten der Welt, nicht nur in Deutschland. Unter der Überschrift „Stehplatz für Milliarden?“ hat Theo Sommer anlässlich der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 geschrieben, dass Malthus sich in der Begründung seiner Ideen zwar geirrt haben möge, das Problem aber richtig erkannt habe.
„Heute steht die Weltgemeinschaft unausweichlich vor der Frage, ob sie die Begrenzung der Erdbevölkerung Kriegen, Hungerkatastrophen und Plagen wie HIV/Aids überlassen will, oder ob sie lieber durch konsequente Familienplanung und Entwicklungspolitik versucht, dem Gebot demographischer Selbstbegrenzung zu folgen“ (Sommer 1994).
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