Der Berner Lehrer lobt sie sehr. Nur der Schnee sei schon so arg weich. Die Luft sei auch föhnig. Wahrscheinlich gebe es einen Umschlag.
„Tauwetter?“ fragt Bernt entsetzt.
„Aus Spiez und Thun und Frutigen wird schon Regen gemeldet heute vormittag.“
„Wehe Ihnen!“ droht Bernt. Besorgt hält er Umschau. Ein Wolkenkranz lagert am Horizont. Von den Dächern der Heuschober tropft es. Die Sonne schmort den Schnee.
„Heute nachmittag muss es noch halten,“ sagt Marion, „das ist das Berner Oberland mir schuldig.“ Eifrig nimmt sie ihre Übungen wieder auf, Bernt leistet ihr Gesellschaft.
Immer weicher wird der Schnee. Die Hotelgäste ziehen ermüdet ab, ein Trupp nach dem andern. Da und dort hört man auch schon den Gong zum Lunch rufen. Aber Marion übt noch immer weiter. Bernt bewundert ihre Ausdauer. Er ist schon etwas erschöpft und setzt sich auf seinen Ski in die Hocke. Endlich hat auch sie genug. Sie verabschiedet ihren Lehrer und kommt zu Bernt, seinem Beispiel folgend. Aber da sie die Ski nicht ganz horizontal ausgerichtet hat, gerät sie ins Rutschen. Er will ihr helfen, doch das duldet sie nicht, weil es nicht sportgemäss sei. Sie zwingt es dann auch.
„Fabelhaft selbständig!“ erkennt er an.
Nun sitzt sie in der Bratsonne nahe bei ihm. Das ganze Schneefeld ist leer geworden. Aus dem Dorf klingt das Juchzen der Kinder, die an dem Abhang eine waghalsige Kurvenbahn für ihre Rodel ausprobieren. Die Luft ist so warm geworden, dass man beim Sprechen nur noch ganz kleine Atemfähnchen sieht.
„Ich muss ja auch selbständig sein,“ sagt sie, „in allem. Hab’s nur leider viel zu spät gelernt. Wie alle Frauen. Ich sagte es Ihnen wohl noch nicht: ich kämpfe jetzt schon seit einem Jahr um meine Freiheit.“
„Oh — ein Scheidungsprozess?“ fragt er, unwillkürlich die Stimme etwas senkend, obwohl sie hier ganz allein sind.
Sie hat ihre Schienbeine mit den Armen umklammert, stützt das Kinn auf die Knie und blickt über das weite Tal hin. „Viel durchgemacht hab’ ich. Ich hab’ Zeiten erlebt — na, ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal selig wie ein Kind in der Sonne sitzen und mich so meines Daseins freuen würde.“
„Das tun Sie also jetzt?“
Sie nickt heftig. „Die Aussicht, frei zu werden. Endlich, endlich. Und sein Leben neu geschenkt in der eigenen Hand haben. Ach, und es dann festhalten für immer, nie mehr, nie mehr abhängig werden. Ihr Männer wisst ja gar nicht, wie gut ihr’s habt. Ihr könnt euch eine nette kleine Paula nehmen, für ein fröhliches Weilchen, und sie dann wieder in die Ecke stellen, wenn’s euch nicht mehr passt. Für uns Frauen aber ist es gleich Schicksal.“
„Für alle?“
Sie zuckt die Achseln. „Vielleicht für Paula nicht. Aber das Risiko einer Ehe ist doch viel gefährlicher für uns als für euch. Am gefährlichsten das einer Liebe. Es kann die Vernichtung bringen.“
„Also haben Sie Ihren Mann sehr geliebt?“
„Sehr.“
„Lieben ihn noch?“
„Ich weiss nicht. Er ist nicht etwa ein Bösewicht. Nein, nein. Ein Taugenichts vielleicht. Aber man möchte doch immer noch die Hand über ihn halten, damit er sich nicht ganz verliert.“
„Das ist ein schwerer Konflikt.“
„Aber er panzert einen gegen neue Gefahren, und das ist gut so.“
„Neue Gefahren?“
„Nun ja, wenn man noch ein bissel jung ist.“ Sie lacht fast trotzig vor sich hin. „Man könnte ja vielleicht das Unglück haben, sich noch einmal zu verlieben. Aber inzwischen ist man dann gottlob so weise geworden, so abgeklärt ... Unsinn, ich will jetzt meinen Lunch haben, den habe ich mir redlich verdient, und es ist grausam von Ihnen, Herr Olshagen, mich in so abgrundtiefe Gespräche zu verwickeln, über die man sein Schweizer Pensionsfrühstück vergisst!“ Sie ist wieder frisch und lebhaft, richtet sich mit Hilfe der Stöcke auf, und gemeinsam schlurfen sie dann durch den weichen Schnee der triefenden Dorfstrasse dem Hotel zu.
Diese Frau ist ihm ein Erlebnis.
Es ist nicht der landläufige Flirt, der sie zusammenbringt. Darüber ist Marion hoch erhaben. Aber sie freut sich über die Sportkameradschaft, die er ihr widmet. Da die Sonne den Schnee hier im weiten Talkessel unheimlich schnell zur Schmelze bringt, muss man zwei-, dreihundert Meter höher steigen, auf die Berglehnen, die gegen die Südsonne geschützt sind. Das werden strapazenreiche Aufstiege für eine Anfängerin wie Marion. Bernts Begleitung gibt ihr Sicherheit. Zweimal bleiben sie den ganzen Tag unterwegs und machen eine köstliche Mittagsrast in einer für Wintersportgäste geöffneten Alpenwirtschaft. Man liegt auf Liegestühlen in der Sonne, in wollene Decken verpackt, die man bald wieder wegstrampelt, pafft Zigarettenwölkchen in die stille Luft, trinkt guten Kaffee und plaudert.
Schade, heute abend trifft Marions Jungfer ein, die den komischen Namen Hansi führt. Dann werden sie nicht mehr so viel allein sein können. Marion erzählt offenherzig aus ihrem Leben. Es ist sehr bunt und wechselreich gewesen. Sie stammt aus Strassburg. Ihr Vater war der bekannte Kunsthistoriker an der Universität. Sie hat als blutjunges Ding die Goldschmiedekunst erlernt, als richtiger Lehrling, war auch ein paar Semester auf der Kunstgewerbeschule in München und hat dann eine Werkstätte in Zürich eingerichtet, die sehr rasch gute Aufträge bekam: die Firma Dubois & Hasse. Ihr Kompagnon Hasse, ein junger Architekt (er ist im letzten Jahr bei dem Drahtseilbahnunglück ums Leben gekommen), war der Geldgeber, denn das Vermögen ihrer Eltern war damals durch die Inflation kläglich zusammengeschrumpft. Auch nach ihrer Verheiratung ist sie noch immer für die Werkstatt tätig gewesen. Sie kann nicht ohne Arbeit leben. Und neue Entwürfe machen ihr Freude. Das Geschäft ist jetzt freilich nicht mehr so lukrativ wie früher, weil der Geschmack schlechter geworden ist und die reichen Leute von heute lieber protzig gefasste Brillanten als künstlerisch verarbeitete Halbedelsteine kaufen. Aber die Einnahmen haben sie doch noch immer über Wasser gehalten. Sie hat ja auch ihren Mann damit durchbringen müssen. Das ist jetzt gerade die grosse Schwierigkeit: bei der Scheidung auch diese Lösung durchzusetzen. In der ersten Verliebtheit hat sie leichtsinnigerweise ihren damaligen Bräutigam als stillen Teilhaber eingesetzt. Hasse war ausser sich gewesen. Natürlich nicht nur aus geschäftlichen Gründen. „Ich taumelte damals hin und her, wusste selbst nicht Bescheid über mich und war sehr unglücklich. Hasse hat ein Semester lang in München die Studentenbude mit mir geteilt. Da haben wir uns viel gezankt.“
„Nicht geliebt?“ wirft er ein, aufgestachelt, von ihrer entwaffnenden Offenheit immer wieder fast erschreckt.
„Auch geliebt. Gewiss. Was man so Liebe nennt, wenn die Frauensinne noch nicht eigentlich erwacht sind. Er hatte dann Glück mit seinem Hochhaus-Entwurf für St. Louis und reiste nach Amerika. Ich sollte Nachkommen. Aber da geriet Fritz in meine Lebensbahn, und nun war ich nicht mehr Herrin meines Willens. Wir kannten uns schon als Kinder. In Strassburg, ich war ein Backfisch, himmelte ich ihn immer wieder an, wenn er als Kadett auf Ferien kam. Wir Backfische schwärmten alle für ihn. Die ganze II und III der Höheren Mädchenschule. Ein wunderhübscher, frecher Bengel war er. Als Offizier hat er wohl nicht allzuviel getaugt. Er ist erst siebzehn ins Feld gekommen. Beim Zusammenbruch hat er dumme Geschickten gemacht. Von all dem erfuhr ich erst später. Als er im November achtzehn nach München kam, traf ich ihn. Ich war gleich wieder ebenso verschossen in ihn wie als Backfisch. Gelernt hatte er nichts. Er ist in allem der kleine Kadett geblieben. Ich nahm ihn nach Zürich ins Geschäft. Die Arbeit passte ihm ja nicht, aber er hatte immer Ideen für Neugründungen. In meinen Augen war damals alles herrlich, was er sagte und was er tat. Ich glaube, ich war noch eitler auf ihn, als er selbst es war. Ja, es ist verrückt, was in so einem Mädchenherzen herumtoben kann. Er ist ja auch heute noch der Beau, nach dem sie alle gucken. Seine schlanken, schönmanikürten, aristokratischen Hände, die nicht tätig sein können, weil sie eben viel zu vornehm dazu sind. Besonders hübsch sieht er zu Pferde aus. Sport versteht er. Eine Zeitlang war er Eintänzer auf Tanzdielen. Hatte er Geld, dann kümmerte er sich nicht um mich. Ging’s ihm schlecht, dann kam er an. Und ich war sofort wieder bezaubert.“
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