„Das ist alles restlos verbraucht. Die lange Krankheit, Rückstände, Beerdigungskosten. Die Schwester des Toten war in der vorigen Woche bei mir. Die Not scheint dort gross zu sein. Das junge Ding hat wohl etwas übertriebene Hoffnungen, macht sich einen falschen Begriff von den Funktionen eines Vormunds, jedenfalls war sie sehr beglückt davon, dass der hohe Chef persönlich mit dem Ehrenamt betraut worden ist.“
Bernt lächelt. „Zunächst ein grundlegender Irrtum, denn der hohe Chef bin nicht ich. Und zweitens ein Beweis dafür, dass sie den Seniorchef der Firma durchaus unrichtig einschätzt. Droeseke in Heinersbach ist nichts als eine Rechenmaschine und belastet sein Gemüt niemals mit Sentimentalitäten. Können ja sehen, ob sich noch etwas von der Firma herausschlagen lässt. Immerhin, wenn der Mann sechs Jahre auf dem Werk gearbeitet hat und Wessel mit ihm zufrieden war ... Ich lasse mir noch berichten ... Ob ich mir die Kinder mal ansehen will? Aber selbstverständlich. Nur bin ich gerade im Begriff, für zehn Tage auf Reisen zu gehn. Ich habe mir die kurze Frist sauer verdient. Sie haben kaum eine Vorstellung davon, was alles auf mir herumklaviert. Und wer ist der Gegenvormund, Herr Amtsgerichtsrat?“
„Habe ich gar nicht erst ernannt. Das ist nur gesetzliche Vorschrift, wenn sich’s um die Verwaltung grösserer Vermögen handelt. Aber das Heimsöthsche ist leicht zu übersehen: Plus minus null. Nähere Verwandte sind ausser Heimsöths Schwester nicht vorhanden, bloss von seiten seiner Frau ein paar entfernte Tanten in Dänemark. Heimsöth habe sich in seiner Not einmal um Unterstützung an sie gewandt, berichtete mir seine Schwester, aber es sei niemals eine Antwort erfolgt. Ich darf Sie also verpflichten, Herr Olshagen ... Hier sind die Papiere; die Ausfertigung erhalten Sie durch die Gerichtsschreiberei.“
Händedruck. Abgemacht. Um eine Ehrenlast reicher verlässt Bernt das Gebäude mit dem Schutzanstrich gegen Lustempfindungen und gibt seinem Chauffeur die Adresse der Zwillingsfamilie. Es ist irgendwo in der Drehe von Schmargendorf.
Richtige Kleineleutgegend. Grossberliner Provinzialwesten, wo er am geschmackverlassensten ist. Ein Haus mit wüsten Orgien in Stuck. Angeklebte Säulenimitationen, aufgepappte Spitzkugeln über den Fenstersimsen. Im engen Hof werden Teppiche geklopft, ein Leiermann spielt, und es riecht aus allen Wohnungen nach Sauerkohl, denn es ist Donnerstag.
„Wohnt hier Heimsöth?“ fragt er eine teppichklopfende Walküre.
„Nee, der is dot, der Heimsöth. Als wie seine Kinder, det sind die Zwillinge da in die Ecke. Da gehn Sie man Quergebäude drei Treppen rechts bei das Fräulein, wo die Schwester von is.“
„Das ist die Tante Mie!“ ruft eine Fünfjährige aus der Hofecke, wo der krumme Schneemann steht.
Bernt sieht ein kleines Plaidbündel, das im Schnee auf und nieder hüpft. Eine rote Nase guckt oben heraus, ein Paar vergissmeinnichtblauer Augen mit strohblonden Brauen und Wimpern. Der wollene Schal ist kreuzweis um die winzige Gestalt herumgewickelt, auch um die Oberarme, was die Bewegungsfreiheit einigermassen einschränkt. Ein zweites Bündel, etwas dicker, mit noch röterer Nase, die stark läuft, und ebenso vergissmeinnichtblauen, ebenso strohblond bewimperten Augen, hüpft im Hintergrunde mit. Das Paar übernimmt nun die Führung. „Wollt ihr erst eure Pfoten abkratzen!“ ruft die Walküre ihnen nach. Die Zwillinge trampeln ein Weilchen auf dem Schabeisen herum und kichern. „Kroppzeug!“ Draussen im Hof geht das Klopfen weiter.
Unendlich lange drücken die Zwillinge an der Flurtür zwei Treppen rechts mit ihren roten Fäustchen den Klingelknopf nieder, beide gemeinsam. „Ich hab’ zuerst geklingelt“, sagt die eine. „Nein ich“, die andere.
Auf das Sturmzeichen kommen rasche, leichte Schritte näher, die Tür geht auf, und die kleine Mie erscheint. „Mein Gott!“ seufzt sie, als sie den fremden Herrn sieht. „Von der Steuer?“
„Olshagen. Der Amtsgerichtsrat Seyb schickt mich. Ich bin zum Vormund der Kinder ernannt worden, Fräulein Heimsöth.“
„Ach, von Droeseke und Koh! — Kinder, so macht doch Platz und lasst den Herrn eintreten. Bitte sehr, ach, das ist furchtbar freundlich, ich wäre natürlich ebenso gern selbst ... Dagmar, wo hast du dein Taschentuch? Ingrid, so hör doch bloss mit Klingeln auf.“
„Ich hab’ zuerst!“ triumphiert das dickere Plaidbündel. „Zuerst — und zuletzt!“
„Ja doch, ja doch ... Entschuldigen Sie, Herr Olshagen.“
Es kann sich ja nur um eine Blitzvisite handeln. Bernt will einen Blick in die Wohnung werfen. Die Zwillinge müssen ihm ihre roten kleinen Pfoten geben, nachdem sie einer mehr symbolischen Reinigung unterzogen sind. Also das ist Dagmar und das ist Ingrid. Solang sie die Plaidumschnürung tragen, kann man sie unterscheiden — die dickere ist Ingrid, weil sie das dickere Plaid bekommen hat —, aber in ihren groben schwarzen Kleidchen ähneln sie einander erschreckend. Schönheiten sind sie gerade nicht, die Zwillinge. Richtige Semmelköpfe.
Und nun die kleine Mie. Einen grösseren Gegensatz kann man sich kaum denken. Grosse, dunkelblaue Augen, schmales Köpfchen, dunkelbraunes Haar, Bubikopf, halbverschnitten. Der Teint auffallend dunkel. Fein gezeichnete, dunkle Brauen hat sie. Eine klare, schöne Stirn. Die Lippen sind schmal, der Mund ist unsinnlich. Im ganzen aber wirkt ihr Figürchen sehr hübsch. Und sie hat noch das Kinderstrahlen in den Augen.
„Also das ist nun euer Herr Vormund, Dagmar und Ingrid.“
„Na, und wie heisst der neue Onkel?“ fragt Bernt gemütlich onkelhaft, indem er sich tief zu den kleinen Semmelblonden hinunterneigt.
„Du bist Herr Droeseke und Koh!“ sagt Dagmar. Und Ingrid plappert es nach.
Es riecht nicht nach Sauerkohl und Armut hier, mehr nach Seife. Nach billiger Seife, freilich. Die kleine Mie hat ein grosses Scheuerfest abgehalten. Die Wohnung ist blitzsauber. Es hängen auch keine Öldrucke an der Wand, sondern schmalgerahmte Zeichnungen und Aquarelle. Werke des toten Modellzeichners, aus der Zeit, als er noch Künstlerträumen nachhing. Gerade keine grossen Talentoffenbarungen sind’s, sie halten sich etwa auf der Höhe eines gewissenhaften Zeichenlehrers.
Die kleine Mie erstattet Bericht, etwas ängstlich, sie verschluckt sich ein paarmal vor lauter Respekt. Ja, die drolligen Farbengegensätze in der Familie Heimsöth, danach wird sie oft gefragt. Ihr Bruder Peter ist ganz blond gewesen. Auch dessen Frau. Die Heimsöths waren immer in Holstein ansässig. Da gab es eine blonde und eine brünette Linie. Eine der vier Urgrossmütter stammte aus Spanien, aber welche, das weiss die kleine Mie selbst nicht mehr.
„Haben Sie einen Beruf, Fräulein Heimsöth?“
„Noch nicht. Ich wollte studieren, Medizin. Letzten Herbst Hab’ ich das Abiturium gemacht. Aber da starb meine Schwägerin, und gleich darauf legte sich Peter. Da ist unser letztes Geld draufgegangen. Ich möchte jetzt Röntgenschwester werden. Der Sanitätsrat Werner will mir dazu verhelfen. Aber das geht doch nur, wenn ich die Kinder unterbringen kann. Wir hoffen immer noch, dass Herrn Werners Freund, Doktor Hesslein, der das Kindersanatorium in Büsum leitet, Freiplätze für sie bekommt. Das wäre ja fein. Aber sie sind so schrecklich plebejisch gesund, sagt der Doktor und lacht dabei. So ganz zum Lachen ist es aber gar nicht. Halbe Freiplätze, das ginge wohl zu machen, meint er, auch so. Aber das kostet 62 Mark den Monat je Kopf.“
„Je Kopf, so so.“
„Au, ist das teuer!“ sagt Dagmar, um die Pause auszufüllen. Und darauf beginnt Ingrid so zu lachen, dass sie husten muss. Dagmar ist sofort eifrig dabei, ihr den Rücken zu klopfen, Ingrid klopft zurück, und unter unbändiger Heiterkeit entsteht eine kleine Keilerei.
Es ist ein Bild ungetrübten Familienglücks. Aber Bernt ist beeilt, kann nicht länger daran teilnehmen. Er lässt sich noch von Fräulein Heimsöth ein paar Adressen geben, macht sich Aufzeichnungen, verspricht, von sich hören zu lassen, und lässt ein kleines „Patengeschenk“, wie er sich ausdrückt, für die Zwillinge zurück: je fünfzig Mark.
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