Marion bat um Entschuldigung. Es sollte keine Indiskretion sein. Aber sie stünde im Begriff, nach dem Süden überzusiedeln, und müsse rasch abschliessen. „Immerhin handelt sich’s um ein wertvolles Objekt ... Doch eine Vertrauenssache, nicht wahr ...?“
Ihr Ton war warm, offen, fast herzlich. Der Angerufene hörte sofort heraus, dass es sich um keine berufsmässige Wohnungsagentin handelte. Aber es widerspreche nun einmal seinen Gepflogenheiten, sagte er abwehrend, am Telephon irgendwelche geschäftlichen Verbindlichkeiten einzugehen. „Nichts für ungut, meine Gnädigste.“
„Bitte“, schloss Marion diese ihre erste Unterhaltung mit Bernt Olshagen, hängte den Hörer an und klingelte ihrem Mädchen. Sie wollte sich sofort anziehen, um zur Mitropa am Zoologischen Garten zu fahren.
Das ganze Büro dort war mit Wartenden angefüllt. Man sass und stand an Tischen und Pulten und blätterte in den Bäderprospekten und Kursbüchern. Es war Februar. Die Vergnügungsreisenden bestellten zumeist Bett- und Fahrkarten nach den Wintersportplätzen oder nach der Riviera.
Bernt hatte noch keinen bestimmten Plan. Viel vornehmen konnte er in der kurzen Zeit nicht. Zur Konferenz der Europäischen Waggonzentrale muss er spätestens zurück sein. Er braucht bloss ein paar Sonntage, ein bisschen Skisport, Freiheit von der Arbeitshetze, Ferien vom Ich.
„Olshagen, alter Junge, famos!“ rief ihn in seiner lärmenden Art Herr von Losse an, der baumlange Regierungsrat, der alle Welt kannte und dem alle Welt auswich. „Auch auf einen Urlaubstrip? Ich fahre nach St. Moritz. Kommen Sie mit?“
Bernts Reiseplan stand in derselben Sekunde fest, wenigstens insoweit, als er das Engadin ausschloss. „Nein, ich suche mir ein ganz stilles Plätzchen aus. Ich brauche Einsamkeit.“
„Aha, Zweisamkeit“, sagte der Baumlange und kniff das rechte Auge hinter dem Einglas zusammen. Er nahm an der Kasse seinen Schein in Empfang, schob die Zigarette in den Mundwinkel und winkte Bernt kordial zu. „Hals- und Beinbruch! Skiheil!“
Bernt blätterte ungeduldig in den Prospekten. Dann wandte er sich rasch dem Beamten zu, der gerade freigeworden war. „Haben Sie noch Bettkarte Erster für morgen abend nach Basel? Mit Anschluss nach Adelboden. Bitte, sehen Sie einmal nach.“
„Sofort, Herr Olshagen.“
In Reichsbahnkreisen war Bernt allgemein bekannt, hier auf dem Büro zudem ein häufiger Gast. Der Beamte schlug den Plan auf und bezeichnete die noch nicht vergebenen Plätze. Bernt wählte, liess sich die Karten ausfertigen, dankte dem Beamten, zahlte und ging. Das Auto erwartete ihn draussen.
Die schlanke junge Dame in dem kostbaren Breitschwanz hatte sich nun auch endlich schlüssig gemacht ... Adelboden! ... Und konnte sie denn noch für morgen abend einen Schlafwagenplatz bekommen? Natürlich Erster. Gut. Bitte. „Der Zug geht 20.15 vom Anhalter Bahnhof. Wagen 231, Platz 9 und 10.“ Marion nickte zufrieden und verliess das Büro in ihrem weichen Gang, eine feine Duftbahn hinter sich herziehend. Die Blicke aller Herren folgten ihr; die Nasen hoben sich und schnoberten in die Luft.
So kam Bernt zu Marions Reisegesellschaft auf seiner Winterferienfahrt nach Adelboden.
Ader es gibt noch unendlich viele Dinge zu erledigen, bevor ein so geplagter Geschäftsmann wie Bernt Olshagen endlich Rast in seinem Schlafwagenabteil findet.
Die Hausdame beschwert sich über die Kinderschwester: sie ist wieder erst um fünf Uhr früh nach Hause gekommen. Es bedarf einer ernsten Verwarnung und der Androhung fristloser Entlassung. Der kleine Klaus hat 37, 9. Der Arzt war da, hat eine Magenverstimmung festgestellt, es sei nichts Ernstliches. Freilich, wenn das Fieber über Nacht steigt, so will Bernt die Reise aufgeben. Sibylle soll morgen ihre kleinen Schulfreundinnen aus dem Privatzirkel zur Schokolade bei sich sehn. Im Gartensaal ist ein Karussell aufgebaut; die Kinder sollen auch tanzen. Hoffentlich werden es bei Klaus nicht Masern, denn dann müsste ja alles abgesagt werden. Sibylle hasst die Hausdame, die eine solche Katastrophe auch nur in Erwägung ziehen kann. Aus dem Geschäft wird angerufen, die Vertreter der rumänischen Ostbahnen sind da, sie haben Vollmacht und müssen heute noch abgefertigt werden. Am besten, man lädt die Herren zum Abendessen ins Hotel Adlon. Das wird natürlich Paula nicht verstehen können, die ihn bestimmt im Exzelsior erwartet ... Und ein paar dringliche Ferngespräche gibt’s mit Heinersbach, mit Stettin und Neu-Dalchow ... Dazwischen die peinliche Auseinandersetzung mit der Schwippschwägerin Adi, die wieder einmal, recht überflüssiger Weise, von Heinersbach herübergeautelt ist, um in seinem Hause „nach dem Rechten zu sehen“. Adi ist die Tochter von Droesekes Bruder, Witwe des Freiherrn v. Tross, des ehemaligen Leibkürassiers und Rennreiters. Reich, geizig, gelbblond, fader Teint, aber kess, von jener gemachten Forschheit, wie sie ehemals in Gardekreisen bei Damen, die von draussen hereinkamen, beliebt war. Enge Stimmritze, berlinernder Stalljargon. Immer aufgeregt und absprechend, ewig voller Entrüstung über Dienstboten und Geschäftsleute. Wenn sie helfen kommt, gibt’s jedesmal Krach im Hause, denn sie steckt ihre spitze Nase in alles, versucht auch ihn zu schulmeistern. Dabei hat sie lang genug die zähe Absicht verfolgt, ihn zu heiraten, obwohl sie drei Jahre älter ist als er. Die Hausdame hat ihm erklärt: sie kündigt, wenn die Frau Baronin in seiner Abwesenheit etwa wieder die Regierung hier im Hause an sich reissen will. Schauderhafte Aufgabe, das in milder Form der nichtsahnenden Adi beizubringen. Sie hat das stärkste Talent, sich überall unbeliebt zu machen. Auch Klaus, das folgsame Bübchen, ist nur unartig, solang Tante Adi im Hause weilt. Sibylle ist zu gerissen, um sich’s mit Tante Adi zu verderben: wenn man Tante Adi schmeichelt, erreicht man ja alles von ihr ... Nun, Bernt kann ihr nicht schmeicheln ...
Und nun das Allertollste, was einem Staatsbürger passieren kann: er hat für den Reisetag um elf Uhr vormittags eine Vorladung vors Amtsgericht erhalten. In einer Vormundschaftsangelegenheit. Die Sekretärin erinnert ihn daran, sonst hätte er den Termin versäumt.
Wenigstens braucht er auf dem trostlosen Korridor des Amtsgerichts nicht zu warten und wird sogleich aufgerufen. Diese Amtsgebäude mit ihrer Kurellabrustpulverfarbe hasst er. Und ebenso diese staubigen Aktenbündel, diese grauen Bürogesichter, diese eingeschlossene Luft in den überheizten Räumen. Warum man ihm das antun müsse, ausgerechnet ihm, der kaum Musse finde, sich mit seinen eigenen Kindern zu beschäftigen? Da gebe es in seiner Villenstrasse Dutzende von behäbigen Rentiers, die ein solches Ehrenamt doch mit viel grösserer Wonne und Sorgfalt ausüben könnten ... „Wie sind Sie bloss auf mich verfallen, Herr Amtsgerichtsrat?“
Der lederfarbene Herr mit der Stahlbrille schlägt das tütenblaue Heft auf. „Es handelt sich um die Hinterbliebenen eines Angestellten aus Ihrem Büro, der vor kurzem verstorben ist. Es hält so schwer, Herr Olshagen, für all die armen Menschenkinder den richtigen Vormund zu finden. Auf der Liste stehen Sie längst. Nun las ich in der Aufnahme, dass Sie dem Manne das Gnadenvierteljahrsgehalt bewilligt haben, nahm also an, Sie waren mit ihm zufrieden, wissen auch etwas Bescheid über die Verhältnisse, unter denen er seine Kinder zurückgelassen hat. Es sind Zwillinge, Mädchen, fünf Jahre alt. Der Verstorbene war sechs Jahr in Ihrem Büro als Modellzeichner tätig. Heimsöth. Peter Heimsöth.“
„Möglich. Aber gesehen hab’ ich ihn nie. Wissentlich nickt. Das Zeichenbüro hier arbeitet unter dem Diplom-Ingenieur Wessel, der wird ihn natürlich genau gekannt haben. Auf Wessels Vorschlag ist gewiss auch das Geld angewiesen worden.“ Er überfliegt die Papiere, die ihm der Amtsgerichtsrat hinschiebt. „Richtig, ich habe die Zuschrift selbst unterzeichnet. Ja, aber bedenken Sie, Herr Amtsgerichtsrat, die Firma beschäftigt im ganzen neunzehntausend Arbeiter, Angestellte und Beamte. Übrigens muss der Mann doch auch von einer Sterbekasse bedacht worden sein, nicht?“
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