„Mein Gott, das kann ich ja gar nicht annehmen“, sagt die kleine Mie entsetzt, aber strahlenden Auges.
„Es ist auch gar nicht für Sie bestimmt, Fräulein Heimsöth. Schaffen Sie an, was die Kinder am dringendsten brauchen. Für ein halbes Jahr, denke ich, wird die Firma Ihnen wohl noch die Sorge abnehmen; ich stelle einen Antrag an die Zentrale in Heinersbach. Inzwischen sind Sie dann ja wohl selbst so weit ... Na, auf Wiedersehen, kleine Dagmar ...“
„Das ist doch die Ingrid!" ruft Dagmar in komischer Entrüstung. „Onkel Droeseke und Koh, das musst du nu aber lernen!“
„Ich verspreche dir’s feierlich!“
Husch, ist der interessante Besuch wieder weg. Die kleine Mie hat Tränen in den Augen, aber zum erstenmal seit langer, langer Zeit sehen die Zwillinge ihre Tante wieder richtig vergnügt. Nein, was wird heute in der aufgeregten Zwillingsfamilie noch gelacht und gespielt und gesungen. Dieses Fest für die Kinder: sie bekommen Wintermäntelchen, brauchen nicht mehr in die grässlichen Plaids eingewickelt zu werden! Und neue Stiefelchen und Fausthandschuhe gibt’s!
Bernt hat im Verlauf dieses Tages kaum eine Minute, um sich der Begegnung mit Mie zu erinnern. Bloss ein paar Sätze in Sachen Heimsöth diktiert er auf dem Büro für die Zentrale. Und hofft im stillen, dass Direktor Schrötter dort die Geschäfte ohne weiteres in Ordnung bringt und den Betrag von Jahresbeginn an ins Pensionskonto einsetzt, denn wenn er erst umständlich dem Seniorchef darüber Vortrag hält ...
*
Aber all die Abhaltungen haben ihn nun um die fällige Aussprache mit Paula gebracht. Paula hat da und dort angerufen, dringlich, immer wieder. Auch mehrmals in der Wohnung. Die Hausdame berichtet ihm, die Baronin habe sie vom Telephon fortgeschickt und lange mit der Dame allein verhandelt.
„Eine Dame aus Stettin wollte dich sprechen, Bernt, sehr eilig und sehr dringlich“, sagt Adi in ihrem harten, gequetschten Gardeton. „Ein Fräulein Krusius. Wollte aber zuerst den Namen durchaus nicht nennen. Sonderbar.“
Nun bleibt Bernt — es ist im kleinen Salon — kerzengerade vor ihr stehen. „Warum sonderbar, Adi? Es wird Paula gewesen sein. Die hat doch keine Ursache, sich dir vorzustellen. Denn du würdest sie ja doch nicht kennen wollen.“
„Paula? Ach so, das ist deine kleine Freundin?“
„Sie war es. Bis heute.“
„Bis heute?“
„Ja. Ihre erste Indiskretion bringt uns natürlich auseinander.“
„Ekelhaft!“ sagt Adi und streift an ihm vorüber zur Tür. „Keine Stunde bleibe ich länger in deinem Hause.“
„Ich mache nicht den Versuch, dich zu halten, Adi.“
„Das ist also der Dank. Auch noch Weibergeschichten. Ich ahnte es aber längst.“
„Nur eine Bitte habe ich an dich. Sei so gütig, Adi, und weihe Onkel Droeseke in meine Verderbtheit ein, noch bevor ich nach Heinersbach komme. Ich kann mich dann dort in meinem Bericht knapper fassen. Und dir macht es ja auch wohl mehr Vergnügen als mir.“
Adi ist dicht an der Tür stehengeblieben. „Ich werde Onkel kein Wort sagen, wenn du mir versprichst, Bernt ... Überhaupt, wer und was ist diese Paula? ... Sich so wegzuwerfen. Ach, Bernt, ich meine es doch gut mit dir. Und mit Sibylle und Klaus erst recht ... Aber bilde dir nur nicht etwa ein, Bernt ... Ach, das wäre ja zum Lachen. Etwa Eifersucht? Phantastisch. Nein, ich mag dich gar nicht mehr sehen, verstehst du. Natürlich begleitet sie dich, deswegen hast du ja bloss diesen plötzlichen Urlaub genommen. Na, viel Vergnügen. Nicht mal richtig Deutsch sprechen kann sie. Ein Barmädchen oder so was, vielleicht eine Masseuse. Furchtbar unkompliziert seid ihr doch, ihr Herren der Schöpfung. Na, adieu, Bernt.“
„Adieu." Einen Augenblick starrt er vor sich hin, dann hebt er den Fernsprecher ab und lässt sich mit dem Hotel Exzelsior verbinden.
Endlich ist Paula am Apparat.
„Ich wollte mich nur noch von dir verabschieden, Paula. Jawohl, endgültig, Paula. Nein, wiedersehn werden wir uns kaum mehr. Ich kann dich nicht daran hindern, nach Berlin zu ziehen, nein, gewiss nicht. Aber zwischen uns muss es jetzt aus sein ... Nachweisen dir, was denn, wieso? ... Nein, nein, lediglich ein paar Indiskretionen, die mir nicht gepasst haben. Kleinlich, sagst du? Die grosse Liebe? Aber ich habe dir doch niemals vorgeheuchelt, liebe Paula, dass du die Erfüllung meines Lebens seist. Und du warst ja auch viel zu geschmackvoll, um mir eine Leidenschaftskomödie vorzuspielen. Wir waren für eine Ballstrecke gute Tanzkameraden, nicht wahr? Nun lass uns ohne hässliche Szene auseinandergehen. Ich schicke dir dasselbe auf dein Bankkonto, was du im letzten Jahr dort gehabt hast. Es brächte dich weiter, Paula, du verbrauchtest das Geld in Stettin. Aber das ist meine Privatmeinung. Nein, bitte, keinen letzten Abschied. An der Bahn schon gar nicht. Ich hasse Perrongespräche. Nun gar ... Aber behalte mich in leidlichem Andenken, Paula ... Um Gotteswillen, Paula, am Telephon weinen ...“
Im glattlaufenden Schlafwagen geht der Schaffner von Tür zu Tür und weckt. Es beginnt zu dämmern. In dreiviertel Stunden ist man in Basel.
Bernt balanciert schon vor dem Spiegel und rasiert sich. Er hat wie tot geschlafen. Aber ausgeruht sieht er nicht aus. Sein Bild missfällt ihm. Er wird im Mai dreissig Jahr — und sein Gesicht ist doch schon recht zerknautscht. Da er viel Sonnensport treibt, täglich mit den Kindern im Dachgarten oben auf der Villa turnt, selbst im Winter bei Schnee, ist er durchtrainiert, schlank, fast mager. Und seine Haut ist gesund bräunlich. Aber die Schläfen sind eingefallen und lassen ihn älter erscheinen. Nun ist auch sein Haaransatz zurückgetreten, die Stirn sehr hoch, man könnte schon beinahe von einer Glatze sprechen, so dünn ist die blonde Haarschicht oben. Vorbildlich gesund sind seine weissen, festen Zähne. Der Zahnarzt, von dem er sich und die Kinder kontrollieren lässt, schmeisst ihn stets mit humoristischer Entrüstung aus dem Sprechzimmer hinaus. Den Spiegel benutzt er nur beim Rasieren, das sind also auch die einzigen Minuten, wo er sich mal ins Auge sieht. Die Farbe seiner Augen ist im Pass braun angegeben, aber in Wirklichkeit ist sie braungrün schillernd. Besondere Kennzeichen? In seinem Elternhaus (er ist früh Waise geworden) hiess er der „fröhliche Bursch“; nach einer Björnson-Novelle hatte ihn seine Mutter so genannt, weil er so gern und so herzlich lachte. Aber wie all seine Altersgenossen, die im ersten Semester der Technischen Hochschule standen, als der Krieg ausbrach, hat er das Lachen zeitig verlernt. Flandern und Galizien! Rasch wurde er zum Offizier befördert. Im Flammenwerfertrupp holte er sich im Dezember 17 die dritte Verwundung. So kam er ins Heimatslazarett, im Mai 18 zur Nachkur ins Heilbad. In Wiesbaden lernte er Droeseke und Tochter kennen. Verliebt, verlobt, Kriegstrauung. Sofort ging’s wieder hinaus. Aber unmittelbar danach reklamierte ihn sein damals sehr mächtiger Schwiegervater für die kriegswichtige Fabrik. Als der Umsturz begann, leitete er das Berliner Büro. Die kleine Sibylle war noch in Schlesien geboren. Im Jahre 19 kaufte Droeseke dem jungen Paar die schöne Grunewaldvilla. Die grosse Sibylle hat das Glück darin ja nicht lang erlebt ... Und sie haben so gut zu einander gepasst. Gerade weil Sibylle das glückliche Gegenteil ihres Vaters war, des geizigen, schrulligen Mannes, der das Leben hasst und nur das Geld liebt ... Was haben sie doch oft gelacht, als junges Paar, wenn es ihnen einmal gelungen war, Papa Droeseke zu beschummeln ... Sibylle konnte ja ein solcher Kindskopf sein, so ausgelassen, und Gesichter schneiden, nein, woher hatte sie das bloss ...? Weder ihr Töchterchen noch Klaus haben auch nur eine verschwindende Ähnlichkeit mit ihr. Eigentlich ähneln sie beide ihrem Grosspapa, äusserlich und innerlich. Schade ...
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