„Wer sind Sie? Sind Sie Fräulein Heimsöth? Sie sollten doch vorher hier anrufen, damit man weiss ... Das sind ja heillose Zustände hier ... Haben Sie Ihre Zeugnisse mitgebracht? Wo waren Sie zuletzt in Stellung? Man muss sich doch erkundigen. Und wieso hat man Ihnen neunzig Mark bewilligt? Sie sind doch höchstens achtzehn Jahr? Wo sind Ihre Sachen? Sie müssen sich gleich umziehen, der kleine Klaus hat sich den Fuss verletzt, er muss im Bett liegenbleiben. Ich habe eine Fahrt in die Stadt, muss eine neue Kinderschwester engagieren. Alles ist ausser Rand und Band hier. Sie verstehen doch Krankenpflege?“
Die kleine Mie weiss nicht, welche Frage sie zuerst beantworten soll. Mit etwas unsicheren Knien steht sie vor der aufgeregten Dame. Das wichtigste erscheint ihr, der Wahrheit gemäss zu versichern, dass sie im letzten Herbst, als sie ihr Abiturium gemacht hat, bereits zwanzig Jahre alt war.
„Das Abiturium haben Sie gemacht? Aber um Gottes willen, was soll man hier mit dem Abiturium anfangen? Das ist nun wieder echt Bernt, der ganze Bernt. So kommen Sie schon endlich ins Haus, Fräulein Heimsöth, ich kann Sie doch nicht hier auf der Treppe in Ihren ganzen Pflichtenkreis einweihen. Wenn Frau von Drugilav aus der Nachbarvilla mich vorgestern nicht dringlich in Heinersbach angerufen hätte, dann hätte es hier noch Mord und Totschlag geben können. Eine solche Gewissenlosigkeit wie die Ihrer Vorgängerin, wissen Sie, die sollte sich was schämen, die Person. Ich habe sie fristlos entlassen, die Kinderschwester auch, und da mag sich der Gesindeschlichtungsausschuss auf den Kopf stellen ... August, wo stecken Sie denn? Nein, jetzt ist keine Zeit, Silber zu putzen, August, legen Sie alles hin und kommen Sie her. Hier ist Fräulein Heimsöth. Die Sachen kommen mit der Paketfahrt? Na, da werden Sie lange warten können. Hätten Sie doch wenigstens für die erste Nacht ... Aber man muss hier eben immer für alle anderen denken, von allein geschieht hier nichts, nichts!“
Es geht durch eine weite Halle, die ganz mit Teppichen ausgelegt ist, über eine breite, bequeme Treppe ins erste Stockwerk. Hier liegen die Schlafzimmer. Tante Adi führt die Spitze des Zuges, der Diener August beschliesst ihn, in der Mitte, wie eine Arrestantin, die kleine Mie.
*
Tante Adi hat die Angewohnheit, die Türen mit militärisch festem Druck, der einem besitzergreifenden Schlag gleichkommt, zu öffnen. Die beiden Kinder, die, mit Bilderbüchern beschäftigt, in dem hübschen, Hellen Schlafzimmer von Klaus sitzen, fahren schreckhaft zusammen, als plötzlich wieder Tante Adi, die sie schon längst auf der Autofahrt glaubten, ins Zimmer hereinfegt.
„Also das ist Fräulein Heimsöth. Sie bleibt jetzt bis auf weiteres hier. Dass ihr mir keine Dummheiten macht, bis ich zurückkomme. Sibylle, komm her und gib Fräulein Heimsöth artig die Hand. Das gehört sich so. Klaus, du rührst dich nicht, sonst fängt dein Fuss wieder an zu bluten. Also, ich bitte mir aus ... Möchten Sie nicht lieber Hut und Zacke und Handschuhe ablegen, Fräulein Heimsöth? Schliesslich sind Sie doch nicht zu einem feierlichen Teebesuch hier, sondern wollen Pflichten übernehmen, nicht wahr? Ich bin in längstens einer Stunde zurück. August, wenn aus Montreux angerufen wird, dann müssen Sie sich noch melden, denn Fräulein Heimsöth weiss noch nicht Bescheid ... Auf Wiedersehen, Kinder!... Am besten, Sie machen gleich Licht, Fräulein Heimsöth, die Kinder verderben sich ja sonst die Augen. Immer ein bisschen Denksport treiben.“
Wie eine Wetterwolke, die sich entladen hat, entschwebt Tante Adi wieder.
Ein Weilchen bleibt es still im Zimmer. Dann wirft sich Sibylle rücklings auf die Chaiselongue, auf der sie mit dem Buch in der Hand gesessen, und lacht, schüttet sich aus vor Lachen. Und Klaus richtet sich in seinem Bett auf, nervös geworden durch all die Unruhe, und beginnt jämmerlich zu weinen.
Die kleine Mie ist selbst noch fassungslos, aber sie weiss doch mit Kindern umzugehen, und so setzt sie sich zunächst einmal ans Bett des kleinen Klaus und erzählt ihm eine drollige Geschichte von einem furchtbar possierlichen Dackel, der lernen sollte, über die Fussbank zu springen ... Klaus ist noch ein bisschen unwirsch, aber er muss dann doch lachen. Ob die Sache wirklich wahr sei?
„I wo,“ sagt Mie, „die hat mir bloss meine kleine Nichte erzählt, die Dagmar, der lustige Zwilling.“ Das Interesse von Klaus für den lustigen Zwilling Dagmar reicht eben hin, um noch ein paar weitere Döntjes aus Büsum anzubringen.
Inzwischen ist Sibylle näher herangekommen. Sie ist blond und schmal, zählt etwas über acht Jahre und hat ein blasses, altkluges Gesicht. Ziemlich dreist mustert sie die neue Erscheinung. Sie hat die Hände im Rücken gekreuzt und wippt auf und nieder. „Sollst du unsere neue Mama werden?“ fragt Sibylle, und es liegt eine schneidende Kälte in ihrem Ton.
„Um Gottes willen, Kind, wie kommst du auf so was?“
„Tante Adi hat gesagt: uns bleibt das auch nicht erspart.“
„Sibylle, das hast du gewiss missverstanden.“
„Nein. Klaus war dabei. Aber der begreift das ja noch nicht. Ich sage dir nur, Fräulein, ich will keine neue Mama haben. In unserem Zirkel die Erna hat eine neue Mama bekommen, und zu ihrer richtigen Mama darf sie jetzt nur noch zu Weihnachten und an ihrem Geburtstag. Und die neue Mama trägt jetzt all den Schmuck, den ihre richtige Mama getragen hat.“
Mie will ablenken. „Die Zwillinge, von denen ich Klaus erzählt habe, die haben gar keine Mama mehr.“
„Wer trägt dann jetzt ihren Schmuck?“
„Sie hat wohl nie welchen gehabt, Sibylle, ihre Mama.“
„Ach, dann sind das wohl arme Leute? Aber wie kommen die ins Seebad? Dort ist es doch teuer. Was kostet da die Pension in Büsum? Papa war mit uns im Herbst in Harzburg. Da musst’ er für mich dasselbe zahlen wie für eine Erwachsene. Rasendes Geld. Vierzehn Mark. Und dann noch Trinkgeld.“
Sie spricht nur über Geld, über Schmuck, über Kleider. Klatscht ein Langes und ein Breites über die Hausdame und die Kinderschwester. Die hatten sich doch früher immer gezankt, die beiden, aber wo die neuen elektrischen Leitungen hier in der Villa angelegt wurden, da lernten sie zwei Männer kennen, und mit denen sind sie gegangen, es waren Brüder, und vorvorige Nacht haben sie heimlich das Haus verlassen, um mit ihnen einen Maskenball mitzumachen. Aber August, der Diener, hat es gemerkt und ist noch um zehn Uhr zu Frau von Drugilav hinübergegangen ... „Klaus wollte Wasser haben und hat geklingelt, aber niemand ist gekommen, weil doch alle fort waren und die Köchin oben in der Dachkammer schläft und nie etwas hört, aber ich hab’ es gleich gehört und bin auf die Treppe gelaufen und habe gerufen ...“
Und nun will auch Klaus davon erzählen. Er weiss freilich nicht alles mehr so richtig. Beim Suchen nach der Klingel hat er das leere Glas vom Nachttisch geworfen, und wo er Sibylle hat rufen hören, da wollte er auch ins Treppenhaus und mitrufen. Aber da ist er in die Glasscherben getreten. Zuerst hat er gar nichts gespürt, es war bloss so komisch feucht. Dann haben sie aber Licht gemacht, und da war alles blutig. „Da, man sieht es noch auf dem Teppich. Siehst du’s?“
„Er hätte sich verbluten können“, nimmt Sibylle wieder auf. „Aber dann ist Frau von Drugilav gekommen und hat den Arzt gerufen und hat mit Heinersbach gesprochen. Das ist das Dumme, dass wir nun gleich wieder Tante Adi auf dem Halse haben. Aber wenn Papa zurückkommt, fährt sie bestimmt ab, denn der kann sie gar nicht ausstehen. Magst du sie leiden, Fräulein?“
„Ich kenne sie ja noch kaum, Sibylle. — Nun hab’ ich bisher aber nur von dir gehört, was du alles zu tadeln weisst, Sibylle. Sag mir doch auch mal, ob du jemand gern hast! Hast du deinen Papa etwa nicht lieb?“
„Ach doch, ja. Aber bloss keine neue Mama möcht’ ich, nein, bloss nicht.“
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