„Du lässt mich nicht umsonst auf dich warten —? Marion! Bestimmt?!“
„Ja, ja, nein, nein, bestimmt. Du wilder Mensch! Du! Ach, ich hab’ ja solche Angst vor Evian!“
Sie wollen darüber beide lachen, aber wieder fliegen sie einander in die Arme und küssen sich, bis sie ins Taumeln geraten.
Wenige Minuten später verlässt Bernt das Hotel. Ein Page hat ihm die Handtasche abgenommen und folgt ihm damit auf dem Fusse zur Dampferstation.
Im Augenblick, als der „Rousseau“ am Quai anlegt, erscheint Marion in ihrem flotten fliederfarbenen Complet. Ihre Jungfer bringt den Pelz, der Etagenportier trägt die beiden Handkoffer, ein Page die Tasche, den Entoutcas und die Reisedecke.
Das Schauspiel einer Dampferlandung gilt hier immer als amüsante Unterbrechung des faulen Kurlebens. Auf den Hotelbalkons steht man einzeln und in Gruppen und beobachtet den Ab- und Zugang. Manche benutzen den Krimstecher dazu.
Marion weiss, dass sie wieder einmal den Mittelpunkt des Interesses bildet. Aber sie gibt auf dem Landungssteg ihrem Freund ganz freimütig die Hand und setzt sich mit ihm sogleich ans Heck des Schiffes, das in der vollen Sonne liegt, offen allen Blicken.
„Sie folgen uns nun, die tausend Augen, denen wir entfliehen wollten“, sagt sie und nickt einer flüchtigen Hotelbekannten zu, die ihr vom Quai aus mit dem grünseidenen Sonnenschirm nachwinkt.
„Ich sehe sie nicht. Ich sehe nur dich. Die Welt ist für mich versunken. Liebste, Liebste —!“
In Dr. Hessleins Kindersanatorium hat der Zuwachs durch die Zwillinge ordentlich neues Leben gebracht. Besonders Dagmar ist hier in Büsum sehr schnell beliebt geworden. Man sieht es dem knallgesunden kleinen Apfelgesicht gar nicht an, dass in dem Kindergehirn dahinter eine so unermüdliche Phantasie arbeitet. Die Märchen, die sie im Kindergarten in Schmargendorf gehört hat oder neuerdings von Tante Mie, sind ihr lebendiges Gut. Sie kann sie auswendig, Wort für Wort, während Ingrid noch Schwierigkeiten hat, auch nur dem Gang der Handlung zu folgen. Auch eine Unmenge Kinderlieber, Gedichte und Verse beherrscht sie. In den ersten Tagen hat sie noch unter der fremden Umgebung gelitten, ebenso wie Ingrid. Beiden Kindern fehlte hier plötzlich die Mutter. Seit Wochen fragten sie zum erstenmal wieder nach ihr. „Warum ist die Mammi nicht auch hergefahren?“ „Warum ist sie im Himmel?“ „Warum hat das der liebe Gott so gewollt?“ „Aber der liebe Gott muss doch nicht immer seinen Willen haben, Tante Mie!“ Das ihm ganz neue Strandleben hat dann auf das flachsblonde Pärchen ablenkend eingewirkt. Da gibt es ungeahnte Dinge. Das furchtbar grosse Meer, das man abends noch rauschen hört, wenn man im Bett liegt, so dass man glaubt, es kommt einem nach und die Treppe herauf. Und am andern Morgen ist es gar nicht mehr da. Da glänzt der nackte Meeresboden in der Sonne. Die ganze Kindergesellschaft legt Schuh und Strümpfe ab, die Kinderschwestern auch, auch Tante Mie, und dann patscht man blossfüssig auf dem Meeresboden ganz weit hinaus und kann kleine Muscheln sammeln. Krabbenfischer ziehen mit Netzen an den Prielen entlang, den Gerinnseln zwischen den Watten. Es riecht nach Tang und Fischen, und die Lippen schmecken salzig. Aber nachmittags kommt dann das Meer wieder rauschend bis an den Strand gesprungen. Und dahinter ist der Deich, von dem man sich hinunterkullern lässt. Und ein Sandplatz ist da, auf dem man mit Formen spielen und Festungen bauen kann.
Mie will nach Berlin zurück. Sie zeigt Herrn Dr. Hesslein, der rasch ihr Vertrauter geworden ist, den Brief von Herrn Olshagen. Eine solche Stellung, in solchem Hause! Sie weiss gar nicht, wodurch sie diesen Antrag verdient hat. Natürlich schreibt Herr Olshagen, es könne nur ein Versuch sein, sie solle erst einmal zur Probe eintreten. Aber das Glück wäre ja riesengross: sie bekommt das Gehalt der bisherigen Hausdame, und wenn sie tüchtig spart, kann sie damit die Zwillinge vor dem Waisenhaus bewahren.
Es hat gar nicht den Anschein, als ob die Zwillinge sich hier sehr einsam fühlen werden, wenn Tante Mie sie verlassen muss. Aber Dr. Hesslein meint, auf Grund langjähriger Erfahrung, immerhin sei es besser, sie gehe ohne letzten Abschied.
So hat sie denn bloss vor der Abfahrt den Kindern je eine Tüte Bonbons an den Strand mitgebracht. Mit der Kinderschwester studieren sie hier kleine Reigen ein. Dagmar hat die Sache sofort begriffen und dirigiert die etwas plumpere und phlegmatischere Ingrid sehr gewandt durch schwesterlich wohlwollende Püffe. Nun spielen sie das schöne Spiel „Häslein in der Grube“. Ingrid ist der Has, aber dass sie am Schluss des Liedchens umpurzeln und tot sein soll, als Has, das begreift sie so rasch denn doch nicht. Da muss Dagmar sie schleunigst aus der Sandgrube herausziehen und für den dramatischen Höhepunkt an Ingrids Stelle den Has selber spielen. Aber sofort hüpft sie wieder zu den Lebenden zurück und führt den Massentanz rund um die Grube wieder an. Inzwischen trollt sich Ingrid zu den beiden Zuckertüten und futtert, futtert, futtert. Darin hat sie eine Riesenausdauer. Stillvergnügt sitzt sie da und stopft sich das Mäulchen voll. Als Dagmar endlich nach ihr sehen kommt, auch nach ihrer Zuckertüte, ist nichts mehr vorhanden von all der Herrlichkeit. Aber nicht, dass Dagmar nun ein Geschrei anfinge. Nein, sofort ist sie mitten in einem neuen Märchenspiel. „Ei, wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ fragt sie mit der hohen, Hellen, verwunderten Stimme Schneewittchens. Und Ingrid muss sich als Zwerg verstecken. Dagmar macht ihr’s rasch vor.
„Sie ist das lebhafteste von all unseren Kindern,“ sagt Dr. Hesslein, als Mie sich verabschiedet, „aber sie macht uns dabei die geringste Mühe. Eigentlich ersetzt sie mir zwei Aufsichtsschwestern, weil sie eine ganze Kompanie zu beschäftigen weiss. Vielleicht muss ich Ihnen noch Gehalt für die drollige kleine Kruke zahlen, Fräulein Heimsöth. Wie?“
Mie lacht. Sie kann ihre Rückfahrt leichten Herzens antreten. Die Zwillinge sind hier offenbar in guten Händen.
Aber vor ihrem Stellungsantritt hat sie doch eine höllische Angst. Mehr jedenfalls als vor dem Abiturium, wo sie vom Mündlichen befreit war. Am Monatsersten soll sie sich in der Herbertstrasse draussen in der Villenkolonie Grunewald melden. Herr Olshagen will selbst zugegen sein und sie mit seinen Kindern bekannt machen, hat er ihr geschrieben.
Die Hauptsorge, die Vermietung ihrer Wohnung, hat ihr der Sanitätsrat Werner abgenommen. Ein junges Ehepaar zieht bei ihr ein, ein Assistent von ihm mit seiner jungen Frau. Es ist Aussicht vorhanden, dass sie ihr die Wohnung abkaufen; das ergäbe ein Kapital, mit dem die Zwillinge für lange Zeit vor aller Not geschützt wären. Vorläufig kann sie ihr bisschen Eigentum noch in der Wohnung lassen, sie bereitet nur den Reisekorb und den Handkoffer für ihren Einzug im Grunewald vor.
Als sie in der Herbertstrasse anlangt und bei dem Gärtner, der im Torgebäude wohnt, vorspricht, erlebt sie ihre erste Enttäuschung. Der Gärtner weiss gar nichts von ihrem Eintritt, und Herr Olshagen sei überhaupt noch nicht da. Es habe grossen Krach in der Villa gegeben, berichtet die Frau des Gärtners, die schwatzlustig hinzukommt. Die Baronin sei jetzt wieder im Haus. „Na, da könn’ Se was erleben, Frollein! Das is ’ne Kusine zu unsern Herrn. Aber sie is der reine Teufelsbraten, is se! Leute kujonieren und eklig auf die Pfennige ... Da kommt sie ebent an, ick drücke mir ... Freifrau von Tross heisst sie, aber man muss Baronin auf ihr sagen, verstehen Sie?“
Ziemlich scheu begibt sich die kleine Mie durch die Einfahrt zum Portal, vor dem ein rotlackiertes Auto steht. Die Baronin kommt die Freitreppe herunter und spricht sehr aufgeregt auf den Chauffeur ein. Plötzlich unterbricht sie sich und fasst die Fremde scharf ins Auge.
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