Die Debatte über die Textgeschichte des Esterbuchs überschneidet sich zwangsläufig mit der Debatte über ältere Ausgangstexte. Wenn der MT das Resultat einer redaktionellen Umarbeitung ist, die auf Proto-Ester fußt, dann muss die Identifizierung der verschiedenen vorherigen Erzählungen ebenso auf der Grundlage des Proto-Ester -Texts erfolgen. Logischerweise greift Clines deshalb Cazelles’ Vorschlag modifiziert auf, denn dieser hat Bedeutung für den Proto-A.-T. (= Proto-Ester ), den er rekonstruiert. 62
Kossmann geht hier noch weiter. 63Nachdem sie, wie Clines, für die Existenz eines vormasoretischen Proto-A.-T. eintritt, nimmt sie an, dass dieser Text ebenfalls das Ergebnis der Umarbeitung einer „Prä-Ester“ ist. Kossmann zufolge wäre diese Prä-Ester auf der Grundlage dreier früherer Erzählungen entstanden: einer Geschichte von Waschti (dem Kern der Kap. 1–2 im A.-T.), einer Erzählung über Haman und Mordechai (dem Kern von Zusatz A und Kap. 6 im A.-T.) und einer Erzählung über Haman, Mordechai und die Königin (dem Kern der Kap. 3, 4, 5 und 7 des A.-T.). Diese hypothetische Prä-Ester, die in keinerlei Verbindung zum Judentum stünde, wäre dann von einem Redaktor mit dem Ziel umgearbeitet worden, diese alte Erzählung innerhalb der jüdischen Diaspora zu verorten. 64
Auch wenn die Identifizierung älterer Quellen der Handlung hypothetisch bleibt, lässt sich zusammenfassend sagen, dass in allen für Ester bezeugten Textfassungen die Erzählstränge von Ester, Mordechai und sogar Waschti sich auf kohärente Weise verbinden. Es ist die Mischung dieser Erzählstränge und der neuen Entwicklungen, die sie erzeugen, die dem Buch eine reizvolle und gut erzählte Geschichte bescheren.
3.4. Die Zusätze in der LXX und im A.-T.
Sowohl in der LXX als auch im A.-T. bringen die Zusätze A–F Themen zur Sprache, die in der übrigen Erzählung nicht vorkommen (einen Traum [Zus. A und F], Gebete [Zus. C], detaillierte Inhalte der Dekrete [Zus. B und E]), aber für den Fortgang der Erzählung nicht unbedingt notwendig sind. Es bestehen kaum Zweifel, dass sie erst spät einer Erzählung hinzugefügt wurden, die grosso modo der „gemeinsamen Erzählung“ von MT, LXX und A.-T. entspricht. Wie die sechs Zusätze A–F verfasst und in die griechischen Texte eingefügt wurden, wird weiterhin diskutiert. 65
Einige dieser Zusätze könnten zunächst unabhängig im Umlauf gewesen sein, bevor sie zu einem Teil der Erzählung wurden. Mordechais Traum (Zus. A und F) weist logische Spannungen gegenüber der Erzählung auf, was den Gedanken nahelegt, dass hier ein älteres Werk eingepasst wurde. 66Außerdem ist es möglich, dass Esters Gebete und die Inhalte der Erlasse (Zus. C, B und E) als eigenständige Texte zirkulierten, die Anspielungen und Bezugnahmen auf die Ester-Erzählung enthielten. 67Über die ursprüngliche Sprache der Zusätze wurde und wird diskutiert. Die Zusätze A, C, D und F enthalten Semitismen, was darauf hindeutet, dass sie ins Griechische übersetzt wurden, wohingegen das Griechisch der Zusätze B und E literarischer ist, was nahelegt, dass sie auf Griechisch verfasst wurden. 68
In LXX und A.-T. sind die Textfassungen der Zusätze sehr ähnlich. 69Man kann daraus schließen, dass sie von einem dieser Texte in den anderen eingefügt wurden. Bickerman, Moore, Clines und Fox 70denken, dass die Zusätze aus der LXX in den A.-T. übernommen wurden. Jedoch zeigen Jobes 71und vor allem Claire-Sybille Andrey 72, dass eine Einfügung der Zusätze in die LXX aus dem A.-T. wahrscheinlicher ist. Wenn also einige Zusätze aus dem A.-T. in die LXX eingegangen sind, dann dürfte die entgegengesetzte Hypothese eher für den Zusatz E zutreffen, denn 7,35–38 A.-T.setzt die Kenntnis von Zusatz E in der LXX voraus, bevor er in 7,22–32 A.-T.eingefügt wurde. Die unterschiedlichen Formen des Griechischen in den Zusätzen und die vielfältigen Probleme, die sich daraus ergeben, lassen darauf schließen, dass das Einfügen der sechs Zusätze das Ergebnis eines langen und komplexen Prozesses ist. 73
3.5. Der Ort der Vetus Latina
Die Vetus Latina (VL) spielt bei der Diskussion des Redaktionsprozesses von Ester nur am Rande eine Rolle, zweifellos deshalb, weil sie a priori für eine Tochterversion der LXX gehalten wird.
Haelewyck 74stellt diese Auffassung infrage. Nach seiner Hypothese ist die VL die Übersetzung eines (verlorengegangenen) griechischen Texts, der sowohl der LXX als auch dem A.-T. vorausging. Er nennt diesen Text La-griechisch III. Ihm zufolge wäre La-griechisch III die Erweiterung eines hebräischen Texts, der dem MT ähnlich ist. Dieser Text wäre durch die Streichung des Schlusses über das Massaker an den Feinden der Juden und durch die Einbeziehung der Zusätze abgeändert worden. Haelewycks Argument baut auf der Beobachtung auf, dass der Text der Vetus Latina logischer und kohärenter ist als der der LXX und des A.-T., und dass die Zusätze harmonischer integriert sind. 75Ihm zufolge wäre die LXX eine Erweiterung von La-griechisch III, die jedoch überarbeitet worden wäre, um besser mit dem MT übereinzustimmen. Die Wiederaufnahme der Erzählung vom Massaker an den Feinden der Juden hätte aber einige Spannungen hervorgerufen, die in der LXX zu spüren sind.
Diese These weist mehrere Schwierigkeiten auf: Die Existenz einer griechischen Vorlage der VL, die sich von der LXX unterscheidet, bleibt hypothetisch; die Spannungen in der LXX zwischen der Haupterzählung und den Zusätzen sind geringfügig und können durch die umständliche Integration von Zusätzen erklärt werden, die ursprünglich unabhängig waren; und schließlich erklärt eine Vorlage der VL, die den anderen Texten vorausginge, die Besonderheiten des A.-T. in der gemeinsamen Erzählung nicht. 76
Demzufolge ist es immer noch wahrscheinlicher, dass der Übersetzer der Vetus Latina mit einem Text arbeitete, der nahe an der LXX war. Den Abschnitt in Kapitel 9, der vom Massaker an den Feinden der Juden erzählt, dürfte er gestrichen haben, um die Rachevorstellungen aus dem Werk zu entfernen und damit Nichtjuden keinen Anlass zur Feindseligkeit zu geben. 77Dieser Übersetzer hätte die Zusätze A1, B, und E verändert und das Datum vom 13. auf den 14. Adar korrigiert, damit es besser zum neuen Schluss des Buchs passte. Dubletten wären getilgt worden, vor allem A2, um den Text flüssiger lesbar zu machen.
4. Synthese und der hier vertretene Ansatz
4.1. Von Proto-Ester zum masoretischen Text 78
Es erscheint allzu spekulativ, Quellen oder unabhängige Traditionen zu rekonstruieren, die zusammengefügt worden wären, um die Grundlage der Erzählung zu bilden, die wir kennen. Die älteste Fassung der Ester-Erzählung, die rekonstruiert werden kann, enthält die folgenden Handlungselemente: den Fall der Königin Waschti, den Aufstieg Esters, gefolgt von den Auseinandersetzungen, die von ihr und Mordechai geführt wurden, um ihr Volk vor der Bedrohung durch Haman zu retten. Wir werden diese älteste Form der Ester-Erzählung von nun an „Proto-Ester“ nennen. Auch wenn wir kein hebräisches Textzeugnis von Proto-Ester besitzen, ist eine griechische Übersetzung dieses Texts in den ältesten Teilen des Alpha-Texts auszumachen, nämlich im A.-T. ohne die sechs Zusätze und ohne den Schluss, der das Massaker an den Feinden der Juden und die Einführung von Erinnerungsfesten erwähnt. Proto-Ester entspricht der hebräischen Vorlage von V. 1,1–21; 2,1–18; 3,1–13.15; 4,1–4.6-12; 5,1–2 79.13–24; 6,1–23; 7,1–16.21bβ.33b.34a des A.-T.
Die hebräische Proto-Ester enthält in den meisten Fällen unvokalisierte Konsonantensätze, die man auch noch im MT ausmachen kann. Jedoch ist Proto-Ester viel kürzer als der MT (ungefähr halb so lang), denn um jene Textfassung von Ester zu erhalten, die dann zum MT wurde, wurde der Text von Redaktoren überarbeitet und ergänzt. Die Arbeit dieser „protomasoretischen Redaktoren“ dürfte in der Hauptsache darin bestanden haben, Proto-Ester eine ganze Reihe von „Extras“ hinzuzufügen. Diese „Extras“ setzen sich aus zahlreichen einzelnen Glossen zusammen, die in den gesamten Text eingefügt wurden, sowie aus redaktionellen Abschnitten, die von einigen Versen bis zu mehreren Kapiteln reichen. Die längsten „Extras“, die von den protomasoretischen Redaktoren eingefügt wurden, betreffen den Inhalt des MT von 1,17–18.22; 2,10–16.19–23; 3,12–14; 4,5–8a; 5,9.11; 7,7 und praktisch die ganzen Kapitel 8–10. 80Seltener haben protomasoretische Redaktoren Elemente von Proto-Ester weggelassen. Die wichtigsten Auslassungen von Proto-Ester aus theologischen Gründen sind die Verse 5,23a; 6,4–6a.13–18; 7,2.4b–7.14.
Читать дальше