3.2. Der Alpha-Text als Spiegelung eines vormasoretischen hebräischen Proto-Ester-Texts
Eine starke Strömung innerhalb der Ester-Forschung betrachtet den A.-T. als Übersetzung eines hebräischen Texts, der älter ist als der MT, eines Texts, den wir im Folgenden als „ Proto-Ester “ bezeichnen werden. Dieser Proto-Ester -Text wäre demnach wesentlich kürzer gewesen als der MT im Hauptteil der Erzählung (Kap. 1–7), und ihm hätte der Schluss gefehlt, der das Massaker an den Feinden der Juden und die Einsetzung des Purimfests beschreibt. Er hätte keine Zusätze enthalten. Der MT wäre aus einer auf Proto-Ester basierenden redaktionellen Überarbeitung entstanden. Dies ist das Modell, das wir bevorzugen.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben mehrere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen grundlegende Beobachtungen gemacht, die dieses Modell stützen. Abgesehen von den Zusätzen und dem Schluss sind die beiden griechischen Textzeugen allzu unterschiedlich, um unmittelbar voneinander abhängige Rezensionen zu sein. Es muss sich also um eigenständige Übersetzungen zweier hebräischer Vorlagen handeln, die einander nur teilweise ähnlich sind. Charles Torrey 43geht davon aus, dass die Kapitel 1–7 des A.-T. die Übersetzung eines semitischen Texts sind, der die älteste bekannte Form der Erzählung darstellt. 44Carey Moore 45hebt hervor, dass die wenigen „Extras“ 46und die zahlreichen „Leerstellen“ des A.-T. in Bezug auf MT und LXX einen hebräischen Vorgänger voraussetzen, der älter als der MT ist. Herbert Cook 47schließt sich an Moores Überlegungen an, kommt jedoch zu dem Schluss, der Übersetzer der Kapitel 1–7 des A.-T. habe mit einem dem MT ähnlichen hebräischen Text gearbeitet, von dem er eine Reihe von Abschnitten weggelassen habe. 48
David Clines 49greift diese unterschiedlichen Beobachtungen auf und entwickelt ein Modell, wonach die hebräische Vorlage der Kapitel 1,1–7,16 des A.-T. ein Text war, der dem ältesten vormasoretischen Ester-Text (dem Proto-Ester -Text in unserer Terminologie) sehr nahe ist. Der vormasoretische Text hätte sich demzufolge in zwei Stufen entwickelt, bevor er eine Form erreichte, die dem MT glich. Zunächst wäre der Hauptteil des Texts umgebaut worden, insbesondere durch die Einfügung einer ganzen Reihe von „Extras“, und dann wären die Kapitel 9 und 10 hinzugefügt worden. Die LXX hätte die dem MT nahe Textfassung übersetzt, während der A.-T. eine dem vormasoretischen Text nahe Fassung übersetzt hätte. Michael Fox 50führt den Ansatz von Clines weiter und kommt zu einem ähnlichen Modell. Der Proto-A.-T., ein griechischer Text, der sich von Kapitel 1,1 bis 7,38 A.-T.erstreckt, hätte ihm zufolge mit wenigen Änderungen ein hebräisches Original – Proto-Ester – übersetzt. Den Text von Proto-Ester hätten Redaktoren schließlich überarbeitet und so den MT erstellt. Der Proto-A.-T. wäre zudem auch von der LXX überarbeitet worden, wobei insbesondere die sechs Ergänzungen zum A.-T. hinzugefügt worden wären. Die Thesen von Clines und Fox sind weltweit akzeptiert und wurden von mehreren Kommentaren, Artikeln und Monographien aufgegriffen. 51
Karen Jobes 52weicht aufgrund statistischer Daten leicht von Clines und Fox ab. Abgesehen von den sechs Zusätzen ist der A.-T. ihrer Ansicht nach die Übersetzung eines hebräischen Texts, der dem MT ziemlich nahekommt 53– selbst in Bezug auf den Schluss aus den Kapiteln 8–10. Ihr zufolge hätte sich dieser griechische Text – nach der ersten Übersetzung vom Ende der Perserzeit, die dem A.-T. zugrunde lag – autonom entwickelt, und die sechs Zusätze wären hinzugefügt worden. Parallel dazu hätte sich auch der hebräische Text ein wenig weiterentwickelt. Die LXX wäre demnach in der Zeit der Hasmonäer entstanden: konzipiert als griechische Übersetzung mit größerer Treue zum hebräischen Text; die sechs Zusätze wären ihr aus dem A.-T. hinzugefügt worden.
Nach Ruth Kossmanns redaktionsgeschichtlichem Modell 54ist der MT die Umarbeitung eines hebräischen Texts – Kossmann nennt ihn Proto-A.-T. –, dessen griechische Übersetzung der A.-T. von Zusatz A,11–16 und der Kapitel 1,1–7,41 (ohne die anderen Zusätze) ist. Die Umarbeitung, die zum MT führte, hätte die auf das Judentum bezogenen Themen hervorgehoben – wobei insbesondere das Motiv eines Gegenerlasses eingeführt worden wäre, der es den Juden ermöglichte, sich selbst zu verteidigen. Ebenso wären Purim, sein Datum und die damit verbundenen Festlichkeiten vorgestellt worden. Dieser Aspekt von Kossmanns Modell steht Clines und Fox in Vielem nahe.
Charles Dorothys Redaktionsmodell ist nicht unvereinbar mit der Existenz eines Proto-A.-T. (bei Dorothy als Proto-L bezeichnet). Bei ihm ist Proto-L allerdings Teil eines Modells, das davon ausgeht, dass eine säkulare semitische Vorlage die Quelle für den späteren MT gewesen wäre und dass eine Umarbeitung mit dem Ziel der Einführung religiöser „Motive“ den griechischen Texten von Ester als Vorlage gedient hätte. 55Das von Lisbeth Fried entwickelte Modell 56kommt dem ziemlich nahe; Fried nimmt an, dass die Vorlage des A.-T., genannt „Proto-A.-T.“, eine leichte Überarbeitung eines älteren Texts von Ester war, die sie als „Prä-Proto-A.-T.“ bezeichnet. Die Gottesbezüge wären in die Vorlage des A.-T. hinzugefügt worden, und der ursprüngliche Schluss, der dem MT von 9,1–5.20.21a.22 entspricht, wäre entfernt worden. Auch Ernst Haag rekonstruiert eine vormasoretische Schicht, jedoch ohne sich auf die Inhalte des A.-T. zu beziehen. Er rekonstruiert außerdem drei aufeinanderfolgende Redaktionsstufen. 57
Die Argumente, die im vorliegenden Kommentar vorgetragen werden, schließen sich eng an Fox’ Modell an. Anders als Jobes gehen wir davon aus, dass ein Proto-Ester -Text, der dem MT nahekommt, unwahrscheinlich ist. Und schließlich macht nach unserer Auffassung die Rekonstruktion eines Proto-Ester -Texts, der sich von der Vorlage des A.-T. und des MT unterscheidet, das Modell unnötig komplex.
3.3. Die Quellen der Narrative
Die Komplexität der Ester-Erzählung kann den Eindruck erwecken, dass mehrere voneinander unabhängige Handlungsstränge vorliegen. So versucht Haman einerseits, das jüdische Volk per Erlass zu eliminieren, und andererseits, Mordechai hängen zu lassen. Er sieht sich mit zwei unterschiedlichen Gegnern konfrontiert, die ihn auf unterschiedliche Weise besiegen: mit Ester während des Gastmahls und mit Mordechai, als sich der König daran erinnert, dass dieser ihm von einer Verschwörung berichtet hatte. Die Erzählung von Waschtis Vertreibung scheint nur lose mit dem Erzählstrang der folgenden Kapitel verbunden und ist für deren Logik jedenfalls nicht nötig. Diese Beobachtungen überzeugten mehrere Exegeten davon, dass das Buch Ester eine Mischung aus ursprünglich unabhängigen Erzählungen sei.
Henri Cazelles 58unterscheidet zwischen einer liturgischen Quelle, die mit dem Purimfest in Verbindung steht, und einer Erzählung über politische Konflikte, die Mordechais Sieg über Haman zum Thema hat. Jürgen-Christian Lebram 59geht davon aus, dass in der Makkabäerzeit eine alte persische Legende über eine Jüdin, die ihr Volk rettet, mit einer in Palästina entstandenen Erzählung über Mordechai und Haman verschmolzen wurde. Elias Bickerman 60sieht im Buch Ester eine Kombination von zwei höfischen Erzählungen, wobei die eine von der Konfrontation der Königin mit einem Höfling erzählt und die andere den Konflikt zweier Höflinge schildert. Hans Bardtke 61macht drei vorausgehende Traditionen aus: eine, die die Erzählung von Waschti enthält; eine, die den Konflikt zwischen dem Juden Mordechai und dem persischen Beamten Haman darstellt; und eine letzte, die von Esters Kampf für ihr verfolgtes Volk handelt.
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