Der Hang wurde steiler. Von hier aus hatte er einen grandiosen Blick auf das Meer. Die Küste von Drian war nicht zu sehen, aber sehr weit weg konnte sie nicht sein. Dort, auf dem offenen Meer, die Masten der Piratenschiffe. Und wenn er sich umdrehte, konnte er fast die halbe Insel überblicken, über Schafweiden – zunächst hielt er die weißen Flecken für Steine, bis er merkte, dass sie sich bewegten – und einen Teil der Obstgärten bis hin zu ein paar kleinen Dörfern, die sich an den Hang schmiegten.
Die salzige Seeluft füllte seine Lungen.
Und noch weiter hinten die schattenhaften Umrisse der anderen Insel. Neiara.
Er konnte es zerstören. Alles. Diese Insel, die zweite Insel, alles, was sich glücklich nannte und ihn dann verriet. Er dachte über seine Rache nach, aber unter dem blassblauen Himmel und dem ewigen Rauschen der Brandung fühlten sich diese Gedanken nicht mehr heiß und befriedigend an, sondern kühl und fremd. Er konnte es zerstören. Aber vielleicht, dachte er, und dieser neue Gedanke hatte etwas an sich, das ihm über alle Maßen gefiel, vielleicht wäre es noch besser, es zu besitzen.
Eine ganze Weile stand er da und bewegte einen neuen Plan in seinem Inneren. Ich bin nicht zahm, hatte Blitz gesagt, ich bin frei, in mir ist der Traum von den Inseln …
Es gab auch eine andere Möglichkeit, sich zu rächen. Eine viel subtilere, aber genauso wirksame Möglichkeit, Blitz den Boden unter den Füßen wegzureißen. Seinen Männern würde das nicht gefallen. Aber hatte er sich je darum geschert?
Man konnte kein Weingut besitzen, ohne sich für Wein zu interessieren. Wikant probierte den Wein nicht nur, er trank ihn. Den ganzen Becher. Es war sein dritter und bestimmt nicht der letzte. Tinek, seine Frau, öffnete den Mund, um ihm Vorwürfe zu machen – er wusste das, denn er war es gewöhnt –, aber zu seiner Überraschung besann sie sich mitten im Satz.
»Wikant, du solltest nicht …! Ich muss mit dir über Erion reden.«
»Über Blöd?«, fragte er.
»Nenn ihn nicht so!« Aber wenigstens fauchte sie nicht. Sie konnte es nicht leiden, wenn er ihren gemeinsamen Sohn so nannte, aber Erion war nun einmal blöd. Wikant fand, dass er als Vater das Recht hatte, die Dinge beim Namen zu nennen. Erion war in jeder Hinsicht eine Enttäuschung. Er interessierte sich nicht für den Weinanbau. Mittlerweile war er dreizehn und eigentlich alt genug, um in die Lehre zu gehen. Aber er benahm sich immer noch wie ein Kind, das keinerlei Verpflichtungen hatte. Weder interessierte er sich für die Traditionen der ältesten Familie von Neiara noch für sonst irgendetwas, das Wikant als sein Vater hätte fördern können. Er wollte Erion ja gar nicht in den Weinbau zwingen, jedenfalls noch nicht. Aber seinem Sohn zu erlauben, einfach in den Tag hinein zu leben, das ging ebenfalls nicht.
»Gut. Dann reden wir über Blöd.«
Tinek verzog das Gesicht, aber sie hatte wohl wirklich vor, ein ernsthaftes Gespräch zu führen, denn sie ließ sich nicht ablenken.
»Erion möchte Aufseher werden«, sagte sie. »Aber er muss doch erst einmal etwas lernen.«
»Wie kommt er bloß darauf?«, fragte Wikant. »Wie will er etwas beaufsichtigen, von dem er nichts versteht?«
»Er will einfach nur aufpassen, was andere tun.« Sie seufzte. »Wikant, ich glaube, es war ein Fehler, dass wir das Wort Weinfürst ans Gut schlagen ließen. Er ist irgendwie in dem Glauben aufgewachsen, er wäre der Sohn eines Fürsten.«
Wikant griff nach dem nächsten Becher. Er lachte. Nach Tineks ernsthaftem Beginn hatte er mit einer weitaus schlimmeren Nachricht gerechnet. »Lass ihn doch. Er ist ein Kind.« Es ärgerte ihn ja selbst, aber er wusste mittlerweile, dass mit dem Jungen nichts anzufangen war.
»Wikant, verstehst du nicht? Er will nichts lernen, weil er glaubt, er muss das alles nicht wissen! Das Einzige, was überhaupt in seinen Schädel hineingeht, sind diese ganzen königlichen Familien auf dem Festland. Er lernt die Namen von Königen auswendig! Von Herrschaftshäusern! Stammbäume fremder Familien!« Sie machte eine Pause, aber da Wikant nichts sagte, fuhr sie fort: »Er glaubt, er könne sich zurücklehnen und zusehen, wie andere schuften.«
»So wie ich, meinst du.«
»Nein! Nein – nun ja.«
»Blöd«, flüsterte Wikant. Er würde mit dem Jungen ein ernstes Wörtchen reden müssen, und nur, damit Tinek zufrieden war. Nützen würde es sowieso nichts. Bei diesem Schnösel war alles vergebens.
Er wollte gerade trinken, als die Tür heftig aufgestoßen wurde. Vor Schreck zuckte er zusammen und goss sich den Wein über das Hemd. »Ver-«
Er hatte seinen Fluch nicht einmal zu Ende gesprochen, als Kelon hereinstürzte. Kelon war in der Kelterei für alles und jedes zuständig, ein kundiger und verlässlicher Mann, der die Verantwortung übernahm, wenn Wikant sich seinen Traurigkeitsanfällen hingab. Vielleicht stellte sich Blöd einen ähnlichen Posten vor, aber dann hatte der Junge nicht begriffen, wie viel dazu gehörte, überall dabei zu sein und zu überprüfen, wie die Dinge liefen.
Es gehörte nicht zu Kelons Aufgaben, hier einfach so hereinzuplatzen. Höchstens vielleicht, wenn es brannte.
Tinek sprang auf. »Was ist passiert?«
»Piraten!«, rief Kelon. »Sie haben den Hafen blockiert, sie sind überall, sie kommen die Straße hoch – hierher!«
Wikant vergaß sein Hemd. Er stand auf. Und dann stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Sie sahen ihn an, beide, Kelon und Tinek, als wäre er derjenige, der sie retten konnte. Er war der Weinfürst. Er musste etwas tun, den Piraten entgegentreten und sie vertreiben. Aber stattdessen stand er nur da und konnte sich nicht rühren.
»Wikant!«, schrie Tinek. »So tu doch was!«
»Was?«, fragte er zurück. »Wir haben keine Waffen. Oder doch? Im Keller?«
»Dort könnten ein paar Hellebarden liegen«, gab Kelon zu. »Und an der Wand im Empfangssaal hängt ein Schwert.«
»Erion!«, rief Tinek plötzlich. »Wo ist Erion? Erion!« Laut nach ihrem Sohn schreiend rannte sie aus dem Zimmer.
Wikant trat ans Fenster. Von hier aus konnte man das Dorf und den Hafen überblicken; vielleicht war es keine schlechte Idee, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Tatsächlich sah er ein großes fremdes Segelschiff zwischen den kleineren Booten liegen. »Es sieht nicht aus wie ein Piratenschiff«, sagte er zu Kelon. »Vielleicht übertreibst du ein bisschen?«
»Wenn es doch nur so wäre«, seufzte der Mann. »Wikant, wir sollten ein paar Dinge verstecken, die von Wert sind.«
»Hast du das Tor verriegelt?«
»Natürlich.«
Wikant nickte erleichtert. »Dann brauchen wir auch nichts zu verstecken. Durchs Tor kommt niemand.«
Es war ein stabiles Tor aus uralten Eichenbohlen. Warum regten sich alle so auf? Selbst wenn es Piraten waren, die die Insel heimsuchten, würden sie sich an den Dörflern schadlos halten und nicht ins Gut kommen. Er trat zurück an den Tisch, auf dem noch der halbvolle Becher stand. »Wir sollten einfach Ruhe bewahren und …«
Bumm.
Der Schlag war so heftig, dass die Wände vibrierten. Wikants Becher schwappte schon wieder über. »Was war das!«, rief er aus. »Jetzt reicht es aber!«
»Sie sind am Tor«, sagte Kelon. »Ich – ich gehe mal nachsehen.« Es klang, als hätte er lieber gesagt: Ich gehe mich verstecken. Aber Kelon war hier für alles zuständig. Und deshalb tat er seine Pflicht und ging, um einen Blick auf das schützende Tor zu werfen.
Bumm.
Wieder das laute Dröhnen, begleitet von einem Krachen, dass Kelon durch Mark und Bein ging. Er nahm all seinen Mut zusammen, um den Feinden entgegenzutreten. Ein paar Arbeiter hatten tatsächlich die Hellebarden aus dem Lager geholt und bemühten sich, Haltung anzunehmen und wie Soldaten auszusehen. Die Verteidiger standen im Hof und wichen bei jedem Krachen einen Schritt zurück.
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