Im 20. Jahrhundert versetzte das Ende des Kommunismus der Globalisierung einen kräftigen Schub. Mit seinem Abgang war die Idee der staatlich gelenkten Wirtschaft gescheitert. Der Wirtschaftsliberalismus, welcher den schrankenlosen Welthandel predigt, setzte sich durch. In der gleichen Zeit wurde die Globalisierung durch den Faktor Internet beschleunigt. Es erlaubt international tätigen Firmen – sogenannten multinationalen Konzernen – globale Imperien zu schaffen, in denen Gewinne geschickt verschoben werden und billig produziert wird. Durch ihre schiere Größe sind sie zu globalen Playern in der Wirtschaftspolitik aufgestiegen. Es ist eine Machtverschiebung im Gange, weg von den Nationalstaaten hin zu multinationalen Konzernen. Diese kämpfen für Steuersenkungen, Privatisierungen und Deregulierungen und nehmen damit den nationalen Regierungen ihre Machtinstrumente weg (Clarke 2002, 112). Es ist nicht übertrieben, wenn Mander (2002, 9) sagt: „Die wirtschaftliche Globalisierung hat wahrscheinlich die fundamentalste Umstrukturierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf unserem Planeten mindestens seit der Industriellen Revolution zur Folge.“ Die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, wie gefährlich nahe am Abgrund sich der deregulierte Finanzsektor befindet und wie wenig es braucht, dass dieser die Weltwirtschaft in eine globale Depression stürzt.
Was bedeutet es angesichts der Globalisierung, in Gottes geliebter Welt Salz und Licht zu sein?
Unsere globale Lebensweise mit ihren sozialen Verwerfungen verlangt nach einer Neudefinierung des Begriffs „Nächstenliebe“. Die Frage „Wer ist mein Nächster?“ stellt sich angesichts einer global vernetzten Welt anders als in der jüdischrömischen Welt des Neuen Testamentes. Mein Nächster – das ist die Näherin, die in Bangladesh das T-Shirt näht, das ich ab Stange kaufen kann; es ist der Bauer mit seinem Kleinbetrieb in Zentralamerika, der die Kaffeebohnen anbaut, die ich in meiner Kaffeemaschine mahle; es ist die Familie auf den Fidschi-Inseln, die nach einer neuen Heimat sucht, weil der von mir mit verursachte Klimawandel ihr Land überflutet und versalzt.
Das Modell der wirtschaftlichen Globalisierung mit ihrem grenzenlosen Handel ist nicht zukunftsfähig, weil es nicht auf Gerechtigkeit beruht. Ungerechtigkeit aber gebiert Unfrieden. Die Errungenschaften der Moderne im Bereich der Menschenrechte (Religionsfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit) müssen konsequent weiter verfolgt werden. Nun ist aber gerade die Globalisierung ein Angriff auf die Menschenrechte und die Menschenwürde. Millionen von Arbeitern in den Billiglohnländern werden ausgebeutet. Das Menschenrecht auf Versammlungsfreiheit (etwa in der Form des Zusammenschlusses zu Betriebsräten oder Gewerkschaften) wird beschnitten. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Die Finanzkrise hat auf einen Schlag Millionen von Menschen in der Zwei-Drittel-Welt noch ärmer gemacht, weil die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellten – unter anderem wegen spekulativer Geschäfte an den Warenterminbörsen.
Die Kirche sollte die Avantgarde der Gerechtigkeit sein. Denn eine gerechte Verteilung des Wohlstands, die Sicherung von Menschenrechten und eine gerechte Nutzung der ökologischen Ressourcen werden Schlüsselthemen des 21. Jahrhunderts sein. Was die Schaffung von Gerechtigkeit und Freiheit betrifft, hat sich die Kirche in den vergangenen Jahrhunderten keine Auszeichnungen geholt. Sie ist den Menschenrechten, welche die Aufklärung erkämpfte, weit hinterhergehinkt. Meier (2009, 1) gibt zu bedenken:
„Ist Freiheit nicht vor allem ein Wert der Aufklärung, der Leitwert des mit ihr verbündeten Liberalismus? Nur allzu oft füllen auch Theologen das Wort ‚christlich‘ mit Freiheit und Freiheitsrechten wie Glaubens- und Gewissensfreiheit. So geht kollektiv vergessen, dass die Freiheits- und Menschenrechte ihren Ursprung im Humanismus der Aufklärung haben – und sich nicht dank, sondern trotz der Kirche durchsetzen konnten. Noch die Päpste des 19. Jahrhunderts verurteilten Religionsfreiheit, Pressefreiheit und die freie Meinungsäußerung in Bausch und Bogen. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts lehnten die Großkirchen beider Konfessionen die liberalen Menschenrechte ab, weil sie das Freiheitsstreben des Individuums als sündhaftes Streben nach Autonomie, als Rebellion gegen Gott verstanden.“
Meier (2009, 1) weist darauf hin, dass die Kirchen sich erst dann mit den Menschenrechten anfreundeten, als diese bereits anerkannte Grundlage des Rechtsstaates geworden waren. Der Fehler der Kirchen bestehe darin, dass sie die Menschenrechte im christlichen Glauben für angelegt hielten. Dieses Urteil wird noch zu prüfen sein. Wir können aber schon jetzt sagen: Das Evangelium von Jesus Christus ist befreiend. Mit Verweis auf das Evangelium kann man die Verweigerung der Menschenrechte nicht erstreiten, ohne sich in Widerspruch zu dieser Guten Nachricht zu setzen. Der frühe Evangelikalismus – ehe Teile von ihm vom Weltverneinenden Fundamentalismus aufgesogen wurden –, erkannte dies deutlich. Hilborn (2004, 9–35) zeigt auf, dass die Evangelical Alliance von ihrer Gründung im Jahre 1846 an eine soziale Agenda entwickelte und sich insbesondere für Religionsfreiheit einsetzte. Einen ähnlich visionären Blick brauchen die Evangelikalen auf das 21. Jahrhundert, wenn sie Vorkämpfer des Schlüsselthemas „Gerechtigkeit“ sein wollen.
Eine der fatalen Auswirkungen der Globalisierung und des ungebremsten Wachstums ist der Klimawandel. Dieser wird in der Welt des 21. Jahrhunderts eine so bedeutende Rolle spielen, dass es sich lohnt ihn gesondert zu behandeln.
Klimaforscher sind sich einig, dass der Klimawandel eine Tatsache ist und dass er hauptsächlich vom Menschen verursacht wird. Die Erderwärmung ist extremer und vollzieht sich schneller als alle bisher beobachteten zwischeneiszeitlichen Erwärmungen. Die dafür maßgeblichen Treibhausgase sind in der größten je gemessenen Konzentration vorhanden und steigen weiter an. In den evangelikalen Kirchen ist das Malen von Schreckenszenarien mitunter als Effekthascherei abgetan worden und man betonte, die Forscher seien sich nicht einig, ob überhaupt ein Klimawandel stattfinde. Das hat verhindert, dass das Thema ernsthaft thematisiert wurde.
Der WWF hat unter dem Titel „im Treibhaus wird es ungemütlich“ vorgerechnet, was es uns kostet, wenn die weltweite Durchschnittstemperatur um zwei Grad ansteigt. 3Etwa die Hälfte der Menschheit wäre Wasserknappheit ausgesetzt. Allein in Indien wären 500 Millionen Menschen betroffen, weil die gewaltigen Gletscher des Himalaja weniger Schmelzwasser abgeben würden. In Nordafrika könnte die Regenmenge um gegen die Hälfte abnehmen. Die Folgen wären Dürre, Armut und Flüchtlingsströme. An anderen Orten würde es deutlich mehr regnen als heute, weil sich das Klima in verschiedenen Regionen unterschiedlich entwickeln würde. Stürme, Überschwemmungen und Taifune nähmen an Häufigkeit und Intensität dramatisch zu. Wegen der unsicheren Klimaverhältnisse würden Missernten stark ansteigen und in manchen Regionen zu Hungersnöten führen. Es wäre weiter zu erwarten, dass Zecken und Mücken und mit ihnen verschiedene Krankheiten, insbesondere Malaria, weitere Verbreitung finden würden. Ein Drittel aller Pflanzenarten wäre vom Aussterben bedroht, weil sich der Regenwald des Amazonas zur Savanne wandeln würde. Schon heute werden chinesische Großstädte im Sommer von Wüstenstürmen heimgesucht, weil sich auf dem chinesischen Festland die Steppe ausbreitet.
Man kann sich darüber streiten, ob dieses Szenario überspitzt ist oder nicht. Unleugbare Tatsache ist, dass die Menschheit gegenwärtig um den Faktor 1,5 über der biologischen Kapazität der Erde lebt. Der Klimawandel führt vor Augen, dass eine grenzenlose wirtschaftliche Globalisierung auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Sachs und Santarius vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie formulieren deutlich:
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