Erstens widerspricht exponentielles Denken der menschlichen Natur. Die meisten Naturgesetze, die unser tägliches Leben regeln, sind ihrem Wesen nach linear. Unser Gehirn hat sich über Tausende von Jahren bestimmte Denkweisen antrainiert. Schon einem Einzelnen fällt es schwer, das Phänomen des exponentiellen technischen Fortschritts zu begreifen. Ist ein ganzes Unternehmen betroffen, ist die Herausforderung ungleich größer.
Zweitens ist es bisher nur sehr wenigen Unternehmen gelungen, eine Transformationsmethode zu definieren, die es ihnen ermöglicht, aus der alten in die neue Welt überzuwechseln. Dabei sind die meisten bisher erfolgten Veränderungen so grundlegend, dass es unmöglich wäre, eine Reaktion darauf zu improvisieren. Nur in eine Technologie zu investieren reicht nicht aus, um sicherzustellen, dass ein Unternehmen daraus auch Nutzen zieht. Dieses Dilemma lag The Smart Way (Valentin, 2017) zugrunde, das die Geschichte eines Unternehmers erzählt, der seine Firma auf die Industrie der Zukunft einstellen wollte.
Die dritte Erklärung hebt auf das Fehlen eines Zielmodells ab, wodurch Unsicherheit darüber entsteht, welche Strategie gewählt werden sollte – und demzufolge, welches Betriebs- oder Managementsystem (und letztlich, welche Organisation) empfehlenswert ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass all diese Fragen vor dem Hintergrund dreier weiterer Debatten gestellt werden – nämlich darüber, wie in einer Welt, die sich ständig verändert und in der das Konzept von einem Sektor als solches nicht mehr sinnvoll erscheint, Wachstumstreiber erkennbar sind, wie sich Disruption vermeiden lässt und wie man fähige Mitarbeiter anzieht und bindet.
Um die Transformation ihrer Branchen sicherzustellen, brauchen Unternehmen neue Kompetenzen. Nur 27 Prozent aller Arbeitgeber glauben, dass ihre Belegschaft richtig ausgebildet ist, um all diese Veränderungen zu bewältigen. Fähige Mitarbeiter sind daher ein ganz wesentlicher Aspekt der digitalen Transformation. Das erklärt, warum weltweit neue Studiengänge entstehen, die auf diese neuen Bedürfnisse ausgerichtet sind. In den Vereinigten Staaten ist das beispielsweise die „Digital Initiative“ der Harvard University, ein auf digitale Transformation orientiertes Programm, das unter anderem das Studium der Industrien der Zukunft beinhaltet. In Saclay bei Paris hat die Boston Consulting Group ein „Operational Innovation Centre“ eingerichtet – im Grunde eine Version einer Fabrik 4.0, in der Studenten aus erster Hand die Arbeitsrealität erfahren und sich mit konkreten Anwendungen und Fällen vertraut machen können, die den Betrieb digitalisierter Fabriken betreffen. Von solchen Zentren soll es in Frankreich in den nächsten Jahren landesweit noch weitere geben. Sie bilden den Unterbau der neuen industriellen Revolution. Und auch die führenden technischen Hochschulen des Landes wie die Arts et Métiers, Paris Tech oder Centrale Paris bieten inzwischen allesamt Studiengänge für die Industrie der Zukunft.
Im Großen und Ganzen versuchen Länder in aller Welt, Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Unternehmen bei der Umsetzung von Strukturen unterstützen, mit denen sie Innovationen fördern können. Dadurch entsteht allmählich ein ganzes Ökosystem.
Den drei bisherigen industriellen Revolutionen der Wirtschaftsgeschichte lagen jeweils drei Treiber zugrunde: disruptiver technischer Fortschritt, neue gesellschaftliche Bedürfnisse und ein Organisationsmodell, das sich an den neuen Kontext anpasste, um dafür zu sorgen, dass der technische Fortschritt auch zu messbarer wirtschaftlicher Entwicklung führte. Beispielhaft dafür ist der Fordismus als offensichtlicher Bezugspunkt der zweiten industriellen Revolution – wenn auch nur wegen der gewaltigen Produktivitätssteigerungen, die er hervorbrachte. Das Leitmodell der dritten industriellen Revolution war der Toyotismus, der eine beeindruckende Verkürzung der Reaktionszeiten bewirkte. Die vierte industrielle Revolution dagegen hat vorerst noch kein solches „Leuchtturm“-System vorzuweisen. Zweifellos tun sich im Sektor der digitalen „Pure Player“ erwartungsgemäß viele Unternehmen wie die des GAFA-Quartetts (Google, Apple, Facebook und Amazon) hervor, die sich als Zielmodelle anbieten könnten. Doch in den Sektoren Industrie und Fertigung herrscht der Eindruck, dass kein Einzelakteur in seiner Vergleichsgruppe so viel Anerkennung genießt, dass sein System als universeller Treiber des Wandels anzusehen ist. Folglich stellt sich die Frage, welches Modell im vierten Industriezeitalter die Rolle übernimmt, die einst Toyota spielte.
Dieses Buch vertritt die Auffassung, dass die vierte industrielle Revolution fraglos bereits in vollem Gang ist und nur eines der neuen Systeme alle Voraussetzungen erfüllt, um davon uneingeschränkt zu profitieren. Dieses System, das die Umstellung der Industrie vom dritten Industriezeitalter auf einen digital-industriellen Hybridsektor vorantreiben wird, ist dem Gehirn von Elon Musk entsprungen, dem ebenso charismatischen wie umstrittenen Chef von Tesla, San Franciscos berühmtem (und weithin gehyptem) Kultunternehmen. Tesla trägt das Erbgut in sich, das diese neue Welt hervorbringen kann. Das Unternehmen wurde in eine digitale Wiege und Kultur hineingeboren und durch und durch von der kapitalistischen Struktur geprägt, die für Technologie-Start-ups unabdingbar ist. Bei der Marktkapitalisierung kann Tesla bereits mit Ford, Renault und GM mithalten und entwickelt sich stetig zum führenden Hersteller in der symbolträchtigen Automobilbranche – und das in einem Land, in dem diese Branche seit Anfang des 20. Jahrhunderts schon nichts wirklich Neues mehr gesehen hat. Dass das mit dem vierten Industriezeitalter assoziierte Modell von einem neuen Akteur stammen konnte, der in der digitalen Kultur und in der Industriekultur gleichermaßen zu Hause ist, ist allerdings keine Überraschung.
Über diese Beobachtung auf Makroebene hinaus liefert das vorliegende Buch eine detailgenaue Darstellung des Teslismus-Modells – hier interpretiert als Nachfolger des Toyotismus. Ziel ist dabei, zu beleuchten, wie es auf die Herausforderungen des vierten Industriezeitalters reagiert. Sieben Grundprinzipien lassen sich daraufhin abklopfen.
Kein System ist vollkommen – nicht einmal das von Elon Musk entwickelte, das Kritikern diverse Ansatzpunkte bietet. Ganz zu schweigen davon, dass es reduktionistisch wäre, den Teslismus auf Tesla zu beschränken. Das hat sogar Musk selbst über die Rolle gesagt, die sein Unternehmen in der Gesellschaft spielt: dass nämlich Tesla, auch wenn es an und für sich unbedeutend ist, genügend Einfluss ausübt, um die übrigen Autobauer in aller Welt dazu zu animieren, massiv in Elektrofahrzeuge zu investieren (Fabernovel, 2018).
Daher ist es nicht etwa Zweck dieses Buches, für die Marke als solche zu werben. Vielmehr soll es den Leser dazu bringen, aus der Distanz über die mit dem Tesla-Modell assoziierten Grundsätze nachzudenken. Immerhin könnten diese für die Organisationen der Zukunft Orientierungshilfe bieten, indem sie sie für künftige Entwicklungen fit machen. Diese Überlegung liegt der Entscheidung zugrunde, jeden der in diesem Buch erörterten Grundsätze mit Kommentaren aus anderen führenden Industrieunternehmen zu untermauern – allerdings nicht ohne weitere Aspekte anzuführen, über die sich jeder Leser seine eigenen Gedanken machen kann, wenn er das Tesla-Modell an seinen jeweiligen Kontext anpasst.
KAPITEL
1
DAS DRITTE INDUSTRIELLE ZEITALTER IST VORÜBER: SO WEIT, SO GUT
ZUSAMMENFASSUNG
Jede industrielle Revolution zeichnete sich bisher durch eine exponentielle Beschleunigung des technischen Fortschritts aus. Wie schon die Legende von König Balhait veranschaulicht, übersteigt exponentieller Fortschritt den menschlichen Verstand. Das erklärt, warum die aktuellen Veränderungen so beunruhigend wirken können.
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