Neben ihm sass die fremde junge Dame, und ihr Blick hatte ihn schon mehrmals gestreift, ohne dass er es bemerkte. Er war viel zu versunken, nahm diese Musik hin wie eine allerhöchste Gnade. Seine Nachbarin fühlte wohl mit, wie inbrünstig sein Ohr die herrliche Musik des Werkes aufnahm, und dass in ihm jetzt für nichts anderes mehr Raum war.
Ein Lächeln der Zufriedenheit legte sich um ihren Mund, und sie träumte neben ihm und mit ihm alles, was die „Uralte Legende“ in Klängen malte, sie träumte — vielleicht war es eher ein Erleben — von dem süssesten Geschehen, das es je auf Erden gegeben, und das sich alljährlich erneuert, das Wunder von der Geburt Jesu, das Wunder jener tausendmal gesegneten Stunde, in der die uneigennützige reine Menschenliebe in die Welt gekommen ist.
Das Finale endete in vollen, breit ausklingenden Akkorden. Es war, als spiele eine mächtige Orgel, und in dem Aufrauschen versank und verklang die „Uralte Legende“ wie in ein Meer von Frömmigkeit.
Totenstille herrschte in dem grossen Haus, und in der Stille erwachte Günter, erwachte aus dem Bann, musste tief atmen, sich in die Wirklichkeit zurückatmen.
Die Stille hielt nicht an. Ein Beifallsturm riss sie fort. Wild und ungebändigt tobte glühende Begeisterung dem kleinen Mann entgegen, der die „Uralte Legende“, diese herrliche Heiligenerzählung, so herzstockend zum Tönen gebracht und sie in einer Weise hatte spielen lassen, dass man dabei über die Grenzen alles Irdischen hatte hinwegschreiten können in ein Land, das ewig rein und schön geblieben — in das Land unseres seligsten Kinderglaubens, in das Land unserer Sehnsucht.
Günter klatschte so heftig mit, dass er seine Nachbarin mit dem Ellbogen anstiess.
Er flüsterte erschrocken: „Verzeihung!“
Die Dame lächelte seltsam weich. Er erkannte, ihr Gesicht, das sich sehr nahe von dem seinen befand, war eigen reizvoll. Über kurzer, sehr gerader Nase standen Augen, die gross und dunkel waren und so stark glänzten, dass er meinte, noch niemals desgleichen gesehen zu haben.
Sie flüsterte zurück: „Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Ich freue mich, dass Sie die Tiefe dieser Musik voll verstanden haben. Denn das haben Sie, ich bin dessen sicher.“ Sie raunte: „Wollen wir uns nachher darüber unterhalten? Ich glaube, es wäre keine verlorene Zeit für Sie.“
Als er in die übergrossen leuchtenden Augen des Mädchens blickte — vielleicht war sie schon eine junge Frau — fand er, obwohl er gern gleich nach dem Konzert heimgegangen wäre, nur die Antwort: „Bestimmen Sie über meine Zeit nach dem Konzert.“
Sie nickte lächelnd, und er dachte, die Fremde mit den grossen Augen, den goldenen Lichtern über dunkelbraunem Gelock, gehört irgendwie hinein in die „Uralte Legende“ dieses Abends.
In der fünften Reihe lagen die Plätze von Frau Bauer und Karola, die Günter längst entdeckt hatte. Sie war glücklich, ihm so nahe zu sein, auch wenn er nichts davon ahnte.
Ganz anders als er hatte sie die Musik empfunden. Soviel allerdings hatte sie gefühlt, dass es etwas Grosses und Besonderes war, was sie eben gehört, aber sie stand ihm, dem Grossen und Besonderen, fast verständnislos gegenüber. Sie hatte den Weg nicht zu finden vermocht, den manche Menschen nachtwandlerisch sicher einschlagen, auf dem ihnen die Musik, Ton für Ton wie in hinreissende Bilder verwandelt, entgegenkommt.
Günter fand den Weg immer.
Karola sah ihn mit der Dame neben sich sprechen. Doch sie dachte sich nichts dabei; sie wurde erst stutzig, als sich die beiden nach dem Konzert gemeinsam erhoben, als ob sie zusammen gehörten und deshalb zusammen fortgingen. Ihr war nicht möglich, die beiden im Auge zu behalten. Es befanden sich zuviele Menschen im Saal, und man konnte sich nur langsam Schritt für Schritt hinausbegeben.
Während der ganzen Zeit, die das Programm beanspruchte, hatte sie nur an ihre Liebe zu Günter gedacht und an das Wiedersehen morgen abend in dem kleinen Café.
Auf der Strasse blickte sie sich aufmerksam nach allen Seiten um, ob sie Günter vielleicht noch erspähen könne, aber sie entdeckte ihn nirgends mehr. Und doch befand er sich noch in ihrer Nähe.
Günter war wie selbstverständlich der Fremden gefolgt, die, nachdem man die Garderobe in Empfang genommen, fragte: „Ich darf Sie also führen, wohin ich will?“
Er sah sie an. Zum ersten Male konnte er sie genau ansehen vom Kopf bis zu den Füssen. Sie war von überschlanker Gestalt, hatte ein schmales, leicht gepudertes bräunliches Gesicht und einen Mund von eigen reizvoller Form. Das über der Stirn zurückgenommene Haar lag nach neuester Mode in einem halbhohen Lockenknoten, und das Kinn war rund. Es sprang vielleicht ein klein wenig vor, was dem Gesicht einen Ausdruck von Willenskraft gab, der auch in den Augen lag, die geheimnisvoll schimmerten und gleissten.
Günter Albus antwortete: „Sie dürfen mich führen, wohin Sie wollen, meine Gnädigste. Ich freue mich darauf, mich mit Ihnen über das Gehörte zu unterhalten. Sie erboten sich dazu, Sie versprachen es mir.“
„Ich pflege Versprochenes zu halten“, lächelte sie und er glaubte um ihren Mund einen Zug von Schelmerei zu entdecken, der ihn flüchtig beirrte.
Sie traten gemeinsam ins Freie. Draussen, in der nahen, stillen Nebenstrasse, wartete ein elegantes grosses Privatauto, in das ihn die Dame einzusteigen bat.
Donnerwetter, also doch ein Abenteuer! Er zögerte, ihrer Einladung zu folgen.
Die Dame drängte: „Steigen Sie nur ein.“ Sie erinnerte ihn: „Sie haben mir erklärt, dass ich Sie führen darf, wohin ich will.“
Er musste unwillkürlich lächeln. Warum sollte er einem solchen Abenteuer aus dem Wege gehen? Er dachte: Mit dem Funkelglanz Deiner Augen kannst Du mich in die Hölle führen, ich wäre ein Narr, mich zu weigern!
Wozu überhaupt Nachdenken, ob es sich um ein Abenteuer handele oder nicht! Er stieg schnell ein. Sie blieb noch ein wenig draussen stehen, sprach mit dem Schofför, dann wandte sie sich zu ihm, der im Wagen auf ihr Einsteigen wartete, erklärte: „Ich bitte Sie, sich noch einige Minuten zu gedulden. Lange dürfte es kaum dauern. Mein Vater muss noch kommen. Ihn müssen wir mitnehmen; er war nämlich auch im Konzert.“
Jeder Gedanke, der Hintergrund von allem könne doch ein Abenteuer sein, schwand bei dieser Erklärung endgültig in Günter. Er fragte: „Warum haben Sie denn nicht mit Ihrem Herrn Vater zusammengesessen?“
Sie antwortete: „Es ging leider nicht.“
Er nickte verstehend. „Man kann zu so einem Konzertabend nicht immer nebeneinanderliegende Plätze bekommen und muss schon glücklich sein, überhaupt hinein zu dürfen.“
Sie drehte sich plötzlich um. Ein Herr, geleitet von einem jüngeren, den er unterfasste, kam auf das Auto zu. Gleich hinter den beiden schritten wohl zwanzig oder noch mehr Leute, wie eine Art Gefolge.
Der ältere Herr stieg ziemlich schnell ein, nachdem die Fremde etwas zu ihm gesagt, und nahm grusslos den Platz vor Günter ein. Neben diesen setzte sich der jüngere Herr.
Die Leute umdrängten das Auto, es wurden immer mehr. Wo sie nur mit einemmal herkommen mochten und was sie wohl wollten? Eine Stimme rief überlaut: „Hoch Karl Bauer!“
Ein Dutzend Stimmen nahm den Ruf auf.
„Dank für den Abend!“ jubelte eine Frau wie trunken vor Glückseligkeit.
Der kleine Herr vor ihm winkte mit der Rechten.
Er sagte laut, aber sehr ruhig und freundlich, als hätte er es schon viele tausend Male sagen müssen: „Auf Wiedersehen!“
Das Auto fuhr bereits an und Günter war es, als ob hinter seiner Stirn Weingeister eine tolle Wirtschaft führten, ihm jeden klaren Gedanken, noch ehe er ihn zu Ende gedacht, wie dürres Reisig zerbrachen.
Lieber Himmel, träumte er oder war es Wirklichkeit, dass er, der unbekannte Günter Albus, für den der Name des berühmten Dirigenten und Komponisten ein Etwas gewesen, vor dem er in scheuer Ehrfurcht erschauert, im selben Auto mit ihm sass, eingeladen von der Tochter Karl Bauers selbst?
Читать дальше