Sie lässt sich nichts anmerken, beschließt, das Spiel mitzuspielen, und läuft weiter, ohne ihn zu beachten. Stattdessen richtet sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann, mit dem sie verabredet ist.
Aber das ist nicht J.J., so viel ist ihr sofort klar. Er kann es unmöglich sein. Dazu ist der Mann, der etwa fünfzig Meter entfernt am Zooeingang mit dem Observer unterm Arm auf sie wartet, viel zu jungenhaft. Was soll sie zu ihm sagen, damit er gleich kapiert, dass sie nicht von gestern ist? Don’t waste my time ?
Dann hört sie eine Stimme, direkt hinter ihrem linken Ohr. »Charlie?« Ein tadelloser englischer Akzent. Als sie sich reflexartig zu der Stimme umdreht, ist sie erfreut, weil Mark (007, so ein Schatz) bei ihr ist, und gleich darauf enttäuscht, als sie sich ihres Irrtums bewusst wird (Mark hat keinen englischen, sondern einen schottischen Akzent und er nennt sie Charles, nicht Charlie).
Im selben Augenblick spürt sie einen kleinen Stich im Hals. Sie versucht, die Hand zu heben, um das Insekt zu verscheuchen, doch ihr Arm verweigert den Dienst.
Aus der Mücke wird eine Wespe, der Stachel wird zu einem Nagel, der Schmerz immer heftiger.
Der Eingang, die Hecke, der Tag, die Schilder mit den lachenden Pinguinen und Giraffen explodieren vor ihren Augen.
Ihre Beine sind nicht mehr da, so fühlt es sich jedenfalls an. Es ist, als würden ihr Oberkörper, ihre Arme und ihr Kopf über dem Bürgersteig schweben.
Ein Trip, aber ein ziemlich mieser.
Hände fangen sie auf, halten sie fest. Sie versucht alles, um einen Blick auf ihre Angreifer zu erhaschen. Es entsteht ein Handgemenge. Sie hört Rufe. Eilt der junge blonde Mann ihr zu Hilfe? Wo ist Mark?
Sie sieht Gesichter, eigentlich nur Schemen, graue Flecken und schwarze Streifen. Alles ist verschwommen. Der Kopf eines Schneemannes mit schwarzem Hut und Regenschirm huscht vorbei, während der strahlend helle Tag zur Nacht wird.
Irgendwo schlägt eine Uhr fünfmal.
Charlies Welt wird schwarz.
***
Panisch ruft Mark Tyler an.
Völlig fassungslos erzählt er ihr von dem Mann im Internet, der Informationen über Charlies Vater hatte, und von den zwei unbekannten Männern, die sie in einen weißen Transporter gezerrt haben.
Ebenfalls voller Panik ruft Tyler Garf an.
Das Handy in seiner linken Brusttasche surrt so laut und plötzlich, dass er zusammenschreckt. Unwillkürlich schlägt er mit dem Ende des Baseballschlägers gegen die Tür.
Jetzt,
Topper Heinrich’s Auto Part Emporium,
an der Interstate 95, Florida
Als das Handygeräusch das Versteck des alten Marshals verrät, stürmt der erste Angreifer sofort in den Trailer.
Mit der linken Hand drückt er gegen die Tür, um den Marshal einzuklemmen. Aufs Geratewohl schießt er durch das dünne Türblatt auf die Stelle, wo er Garfs Oberkörper vermutet. Sieben-, achtmal schnell hintereinander drückt er ab. Die Schüsse sind laut. Aus schierer Frustration stößt er einen Schrei wie einen Schlachtruf aus. Dann lässt er los und macht einen Schritt zurück.
Die Tür schwingt leicht zurück, und wie in Zeitlupe fällt ein Baseballschläger auf den Boden. Kurz darauf kippt der leblose Körper des Marshals vornüber. Sein Kopf schlägt mit einem krachenden Geräusch auf den Boden auf.
Blut auf dem Rücken des Overalls, eine Schusswunde an der linken Schulter.
Der Angreifer keucht. Das war nervenaufreibend. Der alte Marshal war schneller, als sie dachten. Doch jetzt ist es erledigt.
Der Partner des Schützen, sein Cousin mütterlicherseits, kommt hinzu, geht in die Knie, um die Halsschlagader der Zielperson zu betasten, als sie ein Röcheln hören.
Der Marshal spricht in sein iPhone. Fuck.
***
Wie jeder Mann des Spiels hat auch Garf sich oft vorgestellt, wie es sein würde und wie er es nehmen würde … sein Ende. Nicht, weil er Angst davor hat. Wenn es kommt, dann kommt es eben. Man kann nur hoffen, dass es ruhig und friedlich wird, tröstlich und ehrenvoll. Kein Betteln, kein Jammern, kein Bedauern.
Er hat sich da keine Illusionen gemacht. Das Leben führt einen manchmal einfach an unvorhersehbare Kreuzungspunkte.
Doch eins hat er immer gewusst: Er würde in dem Moment an Cath denken, an die Liebe seines Lebens. Er würde sie vor sich sehen, gesund, tanzend und laut lachend.
Doch er hat sich geirrt. Sein letzter Gedanke gilt nicht Cath. Auch nicht den Tausenden Menschen, denen er dank WitSec eine zweite Chance geben konnte, eine neue Identität an einem neuen Ort. Auch nicht den Hunderten, für die er im Namen von REBOUND das Gleiche getan hat.
Garf denkt an seinen einen besonderen Fall. Und was unvorhersehbare Kreuzungspunkte angeht: Ihr voriger Anruf hat ihn geweckt, dieser wird ihm zum Verhängnis.
»Lou«, stöhnt er, während ihm Blut in den Mund sickert. »Wa…?«
»Garf. O Garf.«
»Wa…?« Er versucht es noch einmal, aber vergebens. Das Wort bleibt ihm im Hals stecken. Er schluckt und spuckt, atmet und erstickt, alles gleichzeitig, dann schreit er, so laut er kann: »Hau ab, Lou, hau ab!«
***
Der Angreifer reißt dem alten Marshal das Handy aus der Hand und lauscht.
Eine Frauenstimme. »O Garf. O Garf.« Hysterisch.
» Der Marshal ist gerade gegangen«, antwortet er und grinst seinen Cousin an.
»Danny?«, sagt die Frau.
Danny? Er kennt keinen Danny. Doch er sagt: »Er lässt dich grüßen.«
Sein Cousin nimmt ihm das Handy ab und legt auf.
»Mach keinen Unsinn.« Er zeigt auf Garfs Hand. »Der Siegelring.«
Gehorsam holt der andere sein Messer und eine Plastiktüte heraus. Mit einem Putzlappen wischt der zweite die Tür ab, während er den Blick auf den Eingang der Halle richtet und lauscht. Jemand muss die Schüsse doch gehört haben. Sein Blick fällt auf eine rostige Geldkassette auf einem Regal. Er nimmt sie an sich, obwohl es sich anhört, als wäre sie voller Büroklammern. Vielleicht wird man es für einen Raubüberfall halten.
»Bist du fertig hier? Wir müssen weg.«
»Alles klar.«
Knapp fünf Minuten später fahren sie wieder bei normaler Geschwindigkeit über die Interstate Richtung Südwesten. Das auseinandergenommene iPhone des Marshals werfen sie aus dem Fenster, ein Stück weiter auch die Geldkassette, die SIM-Karte und den Akku. Die beiden Cousins, armenische Amerikaner der dritten Generation, sind auf dem Weg zu einer verlassenen Textilfabrik südlich von Tampa Bay, Florida, wo sie mit ihrem Auftraggeber Johannes Grün verabredet sind.
Ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene kommt ihnen entgegengerast.
Die beiden Cousins schweigen wie immer nach einem Job. Nachkarten, zweifeln oder bereuen … das ist was für Loser. Im Rückspiegel sieht der Fahrer den vertrauten Blick, die Besessenheit, den Adrenalinrausch.
Erst als der Krankenwagen in der Ferne verschwunden ist, ist es Zeit für eine Zigarette und ein bisschen Gequatsche.
»War’s was Wichtiges?«
»Was meinst du?«
»Was die Frau gesagt hat. Das Weib an dem verfickten Telefon.«
»O Garf. O Garf.« Er imitierte eine hohe Frauenstimme.
»Ogarf, Ogarf? Was ist das denn für ein bescheuerter Name? Tust du mir einen Gefallen?«
»Jetzt?«
»Angenommen, bei meinem letzten Telefongespräch rede ich mit dir …«
»Dann soll ich ›Ogarf‹ zu dir sagen?«
»Nein. Alles, nur das nicht.«
»›Alles, nur das nicht?‹ Okay, das kann ich mir merken.«
Tyler, jetzt,
Buitenveldert, Amsterdam
»Garf. O Garf«, schreit Tyler ins Telefon. Sie kann hören, dass er zu kämpfen hat, hört ihn schwer atmen, keuchen, röcheln.
»Hau ab, Lou, hau ab!«
Sie versteht, was er sagt, und ist doch unfähig, sich zu bewegen. Sie weigert sich zu akzeptieren, was gerade geschehen ist. »O Garf. O Garf.«
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