Romy Jaster - Die Wahrheit schafft sich ab

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Warum gibt es Fake News? Und warum fallen viele auf sie herein? Weil der Mensch leider nicht so rational ist, wie er sich selbst gern sieht. Das Phänomen ist dabei alles andere als neu. Neu ist nur das Ausmaß, das mit der Funktionslogik der sozialen Netzwerke zu tun hat. Inhalte werden vorschnell geteilt, weil man zu einer Gruppe gehören möchte oder weil sie ganz einfach zu dem passen, was wir ohnehin schon glauben. Die Autoren des Bandes bieten Lösungsmöglichkeiten an, wie man aus dieser Falle entkommen kann.

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Romy Jaster / David Lanius

Die Wahrheit schafft sich ab

Wie Fake News Politik machen

Reclam

2., durchgesehene Auflage 2019

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961420-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019608-3

www.reclam.de

Einleitung

Seit dem Erscheinen von Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab im Jahr 2010 ist in Deutschland etwas ins Rutschen geraten. Bis zum heutigen Tage wurde das Buch über 1,5 Millionen Mal verkauft und in Feuilletons, Talkshows und dem Internet lang und breit diskutiert.1 Vielen gilt das Erscheinen des Buches als Zäsur.

Im Verlauf der Debatte wurde deutlich: Ein Teil der Gesellschaft fühlte sich dem politischen Mainstream nicht mehr zugehörig und von den Volksparteien nicht mehr vertreten. Sarrazin war auf einen Schlag zum Ventil und Sprachrohr all jener geworden, die grundlegend unzufrieden waren »mit den Zuständen im Land, mit der Einwanderung und den Muslimen«. Und die Unzufriedenen stellten fest: »Wir sind viele!«

Der Feind, das sind die Eliten. Sarrazin, so der Historiker Volker Weiß, inszeniert sich meisterhaft als »Widerstandskämpfer gegen eine angeblich gleichgeschaltete öffentliche Meinung«. Viele sind ihm gefolgt. Heute sprechen Politiker der Alternative für Deutschland (AfD) von einer »Gegenöffentlichkeit«, die sich formiert habe – und greifen damit, ob bewusst oder unbewusst, einen zentralen Begriff der 68er-Bewegung auf.2 Ihre Diskurse spielen sich seit Sarrazins schriftstellerischem Durchbruch und dem Aufstieg der AfD zunehmend sowohl im Internet als auch im öffentlichen Raum ab: Man will sich darüber austauschen, was schiefläuft im Land.

Die bisherigen Leitmedien haben bei diesen Menschen einen schlechten Stand.3 »Lügenpresse, halt die Fresse!« ist ein beliebter Schlachtruf, wenn sich der Ärger der Unzufriedenen auf Protesten Luft macht. Medienvertreter werden als willfährige Gehilfen der Politik gesehen – gleichgeschaltet und von oben gesteuert.

Im Zusammenspiel mit den uneingeschränkten Sendungsmöglichkeiten des Internets hat sich diese Mischung aus Unzufriedenheit, politischer Heimatlosigkeit und Medienverachtung als hochexplosiv erwiesen. Menschen können sich im Netz ungebremst in Rage reden, sich gegenseitig in ihren Ansichten bestärken, korrigierende Einflüsse ausblenden und sich immer tiefer in eine Weltsicht hineinsteigern, durch die sie sich zunehmend vom Rest der Gesellschaft entfernen.

In diesem Klima florieren Falschmeldungen und Irreführungen: Wenn die Standards für gute Berichterstattung selbst in Misskredit geraten, Menschen sich in den sozialen Medien über die Geschehnisse in der Welt informieren und die Leitmedien ihre Gatekeeper -Funktion (deutsch: Torwächter-Funktion)4 verlieren, dann haben Fake News leichtes Spiel.

Die Verunsicherung, die Fake News auslösen, ist immens. Weltweit glaubt über die Hälfte der Menschen, von der Politik in die Irre geführt zu werden. In den USA sind immer mehr Menschen davon überzeugt, dass die großen Zeitungen und Fernsehsender politisch motivierte Falschmeldungen verbreiten.5 In Deutschland ist das Problem weniger dramatisch. Doch auch hierzulande ist fast jeder Dritte überzeugt, häufig oder regelmäßig Opfer bewusster Falschmeldungen zu sein. Zugleich zeigt sich ungefähr die Hälfte der Deutschen unsicher, wie man Fake News von richtigen Nachrichten unterscheiden könne.6

Dazu kommt: Immer mehr Menschen haben Schwierigkeiten, sich in der Fülle der verfügbaren Informationen zurechtzufinden. Im Internet sucht sich jeder seine »eigene Wahrheit« – und wird fündig. Fake News sind immer nur einen Klick entfernt. Kaum jemand nimmt sich mehr die Zeit, sich umfassend zu informieren. Fake News finden daher im Internet ihr perfektes Habitat.

Die durch Fake News hervorgerufene Verunsicherung spielt jenen in die Hände, die ein Interesse daran haben, Angst, Desinformation und Chaos zu verbreiten. Alternative Nachrichtenkanäle und Internetseiten bringen gezielt und mit großem Erfolg Unwahrheiten in Umlauf. Wenn gesamtgesellschaftliche Gewissheiten erodieren, wenn Menschen sich fragen, wem sie noch trauen können, wenn Staat, Wissenschaft und Leitmedien ihre Informationshoheit verlieren, dann bilden sich soziale Parallelwelten, die neue Machträume eröffnen. Wer es schafft, Chaos anzurichten, der schwächt damit seinen Gegner. Fake News werden gezielt eingesetzt, um Politik zu machen.

Doch von wem? Die Antworten fallen unterschiedlich aus, je nachdem, in welchem politischen Lager man fragt. Auf der einen Seite verleiht der US-Präsident Donald Trump seit Januar 2017 einen Preis für Fake News,7 um die Berichterstattung einzelner US-amerikanischer Medien zu brandmarken, und die AfD bekämpft mit den Schlagworten »Fake News« und »Lügenpresse« die Leitmedien.

Auf der anderen Seite rufen die großen Medien und auch viele kleinere Organisationen Faktenchecks ins Leben, um der Flut an Fake News aus dem rechten Spektrum Herr zu werden: Die Zeitungen Guardian und New York Times dokumentieren akribisch die Falschaussagen Trumps, während der Faktenfinder der ARD und das unabhängige Recherchezentrum Correctiv die der AfD sammeln und richtigzustellen versuchen.

Doch obwohl der Begriff in aller Munde ist, herrscht wenig Einvernehmen darüber, was Fake News überhaupt sind. In den Medien und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen häufen sich die unterschiedlichsten Definitionen und Charakterisierungen.

In jüngster Zeit sind daher Zweifel an der Brauchbarkeit des Begriffs aufgekommen. Claire Wardle, Forschungsdirektorin am Tow Center for Digital Journalism der Columbia University in New York, hält den Begriff »Fake News« für wenig hilfreich – selbst dann, wenn man ihn in Anführungszeichen verwendet.8 Der Gründer und Chef der US-amerikanischen Faktencheckseite Snopes , David Mikkelson, nannte den Begriff sogar »nutzlos« und warb dafür, sich eine neue Begrifflichkeit auszudenken.9 Während das Oxford Internet Institute inzwischen lieber von »Junk News« spricht,10 empfiehlt das Unterhaus des britischen Parlaments die Rede von »Fake News« ganz aufzugeben: »Fake News« könne dem Bericht des Hauses zufolge derartig viele verschiedene Phänomene benennen, dass es besser sei, ganz allgemein von »Desinformation« zu sprechen.11

Klar ist aber auch: Will man den Einfluss von Fake News messen, diskutieren oder eindämmen, helfen Anführungszeichen oder ein neuer Name nicht weiter. Bevor man den Schaden von Fake News abschätzen und praktische oder juristische Gegenmaßnahmen ergreifen kann, muss man wissen, womit man es zu tun hat. Unabhängig davon, wie man das Phänomen benennt, ob man von »Fake News«, »Junk News« oder einer speziellen Art der »Desinformation« redet: Es führt kein Weg daran vorbei, sich zunächst mit dem Phänomen selbst zu beschäftigen, es zu analysieren und möglichst genau zu umreißen.

Fake News, so viel steht fest, haben irgendwie mit irreführender Berichterstattung zu tun, mit Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, Desinformation und Propaganda, mit journalistischen Fehlern, Fahrlässigkeit und einer problematischen Haltung zur Wahrheit, mit der Digitalisierung, den sozialen Medien und mit mazedonischen Teenagern, die mit erfundenen Netzinhalten auf Klicks und Profite abzielen. Und natürlich haben Fake News mit dem globalen Aufstieg der Rechtspopulisten und der »Ära Trump« zu tun, in der »Fake News« als politischer Kampfbegriff verwendet wird, um unliebsame Berichterstattung zu diskreditieren.

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