Und da wurde plötzlich Stille im Saal. Was war mit dem braven, immer dienernden Zigeuner Bálint los? Wer hatte Solches von ihm je gehört? In den Saiten des Cymbals brauste und tobte es, wie wilder Aufruhr. Scharfe Dissonanzen zischten unter den wirbelnden Hämmern hervor. Der ohnmächtige Zorn eines zertretenen Herzens schien sich zu entladen. Und dann, mit einem Mal, erhob sich aus dem Höllengerassel des mißhandelten Instrumentes eine Liedweise, zitternd und einsam, wie ein Engel im Tal der Verdammnis und weinte über dem Leid der Menschheit.
Bernhard schob sich immer näher. Die Töne sanken wie segnende Hände auf das Haupt des verwaisten Knaben.
„Gott mit dir, mein Kind“, sagte Bálint, als er geendet hatte.
Länger, als er vorhergesehen, war Bernhard in der „Krone“ geblieben, er mußte sich sputen, um den Bahnhof rechtzeitig zu erreichen. Er sah das Gespann der Herrschaft vorfahren und Falco in Begleitung Don Carlo’s und eines hochgewachsenen, vornehmen Mannes aussteigen. Das war wohl Falco’s Vater, der versprochen hatte, für Fiorenca’s Zukunft zu sorgen.
Ein Kammerdiener trug das Handgebäck, ein jüngerer Bedienter den Proviantkorb in die Bahnhofhalle. Der Schaffner salutierte und verbeugte sich ehrerbietig. Ein Abteil erster Klasse war für die hohen Reisenden reserviert worden. Der Schaffner riß diensteifrig die Coupétüre auf.
Bernhard war noch nie mit der Eisenbahn gefahren und hielt sich etwas beklommen abseits. Der Kammerdiener hatte ihm eine Fahrkarte dritter Klasse in die Hand gedrückt. Die Wagen dritter und zweiter Klasse waren schon vollbesetzt. Viele Leute reisten jetzt nach Wien zur Weltausstellung, denn der große Börsenkrach dieses Jahres 1873 hatte die Ungarn nur wenig mitgenommen.
„Einsteigen! Belieben einzusteigen!“ rief eine fette Baßstimme in deutscher und dann in ungarischer Sprache. Bernhard taumelte in einen Wagen hinein, fand aber keinen Sitzplatz. Da hörte er seinen Namen rufen, sprang aus dem Zug und sah, daß ihm Don Carlo aus einem Wagenfenster mit einem großen Schnupftuch winkte. „Komm!“ sagte der Geistliche und zog Bernhard in das Abteil. Der Schaffner erhielt einen Silbergulden, salutierte und hob Bernhards Felleisen in das Gepäcknetz.
Falco’s Vater, Baron Claudio Casalanza, stand auf dem Bahndamm und schüttelte Don Carlo die Hand. „Ich bin dir sehr dankbar, caro cugino, daß du meinen Sohn in deinen Schutz nimmst. Ich werde euch am nächsten Sonntag im Konvikt besuchen. Sei artig, Falco!“ Der Knabe hatte sich aber, weil er Bernhard den Platz nicht gönnte, der Länge nach auf den rotsamtenen Sitzen ausgestreckt und stellte sich schlafend. Einige Minuten später, als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, schlief er wirklich.
Bernhard saß am Fenster und spähte in die mondhelle Nacht hinaus. Links von der Bahnstraße schimmerten die Grabsteine des Friedhofes, auf welchen man seine Mutter bestattet hatte. Ach, wie kurz war der Blick, den er dorthin senden konnte! Pappelalleen glitten jetzt vorüber, weite Äcker und dazwischen ärmliche Dörfer, deren niedere Strohdächer sich um die Kirche kauerten. Hundegebell scholl aus einem Park. Zwischen alten Bäumen stand ein Kastell, breit, mächtig, mit gedrungenen Ecktürmen. Geigentöne ... Zigeunermusik.
Die Räder des Zuges gingen langsamer. Eine Haltestelle. Dahinter Pferdegetrappel. Auf einem Jagdwagen saß ein junger Kutscher in Nationaltracht und wartete auf die Gäste seiner Gutsherrschaft. Weiter ... Von den Saatfeldern kam ein lauer Wind, durchtränkt von Duft der Akazienblüte. Heimat ... Mutter ... empfand Bernhard und jetzt rannen die lange verhaltenen Tränen über sein Gesicht.
Don Carlo, der in der anderen Fensterecke scheinbar in ein Buch vertieft war, beobachtete ihn längst.
„Strecke dich aus und schlafe jetzt“, befahl er ihm.
„Ich küsse die Hand, ich will Euer Hochwürden nicht belästigen. Ich könnte auch nicht schlafen.“ „So bete. Wenn man nicht schlafen kann, tut Beten Not.“
Als es über den östlichen Himmel zu dämmern begann, hielt der Zug in Ödenburg. Offiziere stiegen säbelklirrend in das Nebencoupé, das ihnen der Schaffner für das übliche Trinkgeld geöffnet hatte. Sie lachten und plauderten so übermütig laut, daß Don Carlo fast jedes Wort durch die Wand des Abteils hörte ... Sie kommen vom Wein und von den Frauen — dachte er — aber wenn sie vor dem Feinde stünden, wüßten sie so ritterlich zu sterben, wie für die Augen einer schönen Frau. Irdisch, allzu irdisch ... und doch mit einem hohen Flug der Seele, die das letzte, größte Opfer zu bringen bereit ist.
Ob die Hingabe des körperlichen Daseins aber das größte Opfer bedeutet? Nur für jene, die kein anderes Leben kennen ...
Wieder klang herzhaftes Gelächter herüber. Don Carlo schaute nach seinen beiden Schutzbefohlenen. Falco schlief mit offenem Munde. Auch Bernhard war eingeschlafen. Da der Morgen kalt war, breitete der Geistliche einen Reiseshawl über seinen Neffen und deckte Bernhard mit seinem Mantel zu. Wie friedlich sie schlummern, dachte er, aber werden sie in ihrem Erdenwallen auf jene Höhen gelangen, wo der wahre Friede wohnt, der jenen verheißen ist, die guten Willens sind?
Fiorenza Bálint war fünf Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal einer unendlichen Seligkeit bewußt wurde. Sie war ihrer zeitweiligen Hüterin, der guten, aber sehr ängstlichen Agnes entlaufen. Den Flügelschlag eines Vogels mit den Armen nachahmend, war das Kind einen Gartenpfad hinaufgeeilt, durch die Gattertür geschlüpft und befand sich in einem abgesonderten Gemüsegärtchen, das von Bohnenranken umfriedet, ein sicheres Versteck bot. Hier wuchsen zwischen Salatbeeten und Krautköpfen braungoldene Levkojen, da duftete es nach Verbenen und Basilikum und da lag Fiorenza’s eigenes Blumenbeet, das sie mit Onkel Sepp’s Hilfe bepflanzt hatte. Eben auf diesem Beete war eine Geraniendolde aufgeblüht. Brennende Liebe heißt diese Pflanze im Volksmund. Das Kind kniete vor dem purpurroten Blütenwunder. Zwei Falter spielten um die Kelche, setzten sich für einen Augenblick mit bebenden Flügeln auf die Kinderhand und entschwebten dann in das Gezweig eines alten Apfelbaumes. Fiorenza kletterte mühelos den etwas schief gewachsenen Stamm empor bis zu einer Gabelung, die einen prächtigen Hochsitz bot.
Ein Glücksgefühl ohnegleichen durchströmte sie. Den Kopf zurückbiegend, ließ sie sich die warme Sonne durch die geschlossenen Lider scheinen. Losgelöst von der Erde hing sie in den Ästen und hatte das Gefühl des Fliegenkönnens, wie es in Träumen vorkommt.
Da sah Fiorenza zwei Kinder zwischen den Gemüsebeeten langsam auf und abgehen. Ein Mädchen mit kleinen, festgeflochtenen Zöpfen, das einen jüngeren Knaben an der Hand führte. Fiorenza winkte ihnen näher zu treten und die Kinder blieben stehen. „Kommt zu mir!“ rief sie, „wir wollen spielen!“
Hörten sie nicht? Wie hinter einer gläsernen Wand standen sie und schauten mit großen, scheuen Augen herüber.
„Schön ist es hier oben!“ lockte Fiorenza. Da kam das kleine Mädchen zögernd heran, lächelte und schlang die Ärmchen um den Baum. Fiorenza beugte sich nieder: „Wie heißt du?“ Das Kind blieb aber stumm. Mit langgezogenem Heulen stieß ein Neufundländer die Gattertüre auf, kroch winselnd unter den Apfelbaum und beruhigte sich erst, als Fiorenza herabstieg und ihn am Halsband faßte. Er drängte sie aus dem Gemüsegarten hinaus. Am Pförtchen wendete sie sich aber nach den Kindern um. Hatte Tell, der Hund, sie verscheucht? Sie waren fort.
Der Neufundländer zog und zerrte Fiorenza bis an das Landhaus hinab, legte sich dort in Hütstellung nieder und knurrte dumpf weiter. Fiorenza hatte sich auch ins Gras geworfen und begann, sich mit ihm zu balgen. Er stemmte die großen Pfoten gegen ihr weißes Kleid und fuhr mit der Zunge über ihr Gesicht. Da griff sie ihm ins Maul. Ganz zart hielt er ihr Händchen fest.
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