Elise gab eine Dinnerparty. »Tut das gut?« Sie massierte die verspannten Muskeln in Pauls Nacken und Schultern. »Bist du jetzt bereit, gastfreundlich zu sein?«
Er fühlte sich bereit, doch als die Party nahte, war er dafür nicht in der Stimmung. Es waren Elises Freunde und nicht seine. (Gerald als Gast hatte sie abgelehnt. »Ich mag Gerald, aber er ist nicht gerade stubenrein, du verstehst, was ich meine? Er ist nicht gesellschaftsfähig.«) Ruth und ihr Mann kamen, dann noch ein Paar, das sie beim Warten auf den Schulbus kennengelernt hatten. Die meisten Leute, die sie im Dorf kannten, waren Zugezogene, aber Ruth war hier geboren, ihr Bruder hatte den Bauernhof geerbt, auf dem sie aufgewachsen war. Sie war klein und patent, mit gepflegten hübschen Zügen und dunklen Locken, die sie hinten zusammenband; Paul fand sie steif und prüde. Einmal hatten er und sie sich heftig über die walisische Sprache gestritten. Er war sicher, dass Elise sich bei ihr über seine Beschäftigung mit Büchern und über sein Schreiben beklagte, und über sein Versäumnis, seinen Teil der häuslichen Pflichten zu übernehmen, obwohl Elises Arbeit mehr zum Familieneinkommen beitrug als seines.
Elise hatte ihn gewarnt, er solle bei der Party nicht »alles verderben«, sich an der Unterhaltung beteiligen und sie aktiv vorantreiben; aber er fand den Abend langweilig, eine gesellschaftliche Musik, die als Untermalung zum Essen auf und ab perlte. Alle am Tisch, Männer wie Frauen, waren irgendwo in den frühen Vierzigern; unwillkürlich sah Paul die ersten Zeichen der Alterung auf ihren Gesichtern, die kleinen schlaffen Hautpartien um Mund und Kiefer, die Tränensäcke unter den Augen, den Beginn des Knitterns und Bröselns, das sie in ihre zerfallenden älteren Ichs verwandeln würde. Sie unterhielten sich über Kostümfilme im Fernsehen. Jemand sagte, dass nichts sich wirklich verändere und dass sich, wohin man auch sehe, unter den Perücken und Kleidern dieselben Muster abspielten, dieselbe menschliche Natur befand. Paul entgegnete, seiner Ansicht nach liege das nur daran, dass Fernsehdramen die Zuschauer von dieser Gleichheit überzeugen wollten, dass sie eine tröstliche Illusion sei, ein Betrug.
In Ruths Wange zuckte ein Muskel und wappnete sich gegen ihn, während sie mit der Gabel in ihrem Reis herumstocherte. »Wie meinst du das?«
»Menschliche Kulturen bewegen sich in der Zeit vorwärts wie durch ein Ventil, in dem es kein Zurück gibt. Das Wesentliche der Erfahrung wird immer wieder verändert, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr oder Wiederherstellung. Geschichte ist die Geschichte von Verlust.«
»Aber es gibt auch Gewinne«, widersprach Elise.
»Die Menschenrechte zum Beispiel oder die Behandlung von Frauen. Die Abschaffung der Sklaverei.«
»Und Empfängnisverhütung.«
»Folgt daraus«, sagte Paul, »dass sich Gewinn und Verlust in der Summe zwangsläufig ausgleichen? Wer könnte entscheiden, dass wir mehr gewonnen haben?«
»Oder mehr verloren.«
»Was wäre, wenn das Aussterben in der Natur die Vorwärtsbewegung unserer menschlichen Kultur in der Zeit spiegelte und dabei einzelne Möglichkeiten und Merkmale ausgelöscht werden, bis es insgesamt weniger gibt, viel weniger?«
»Sollen wir uns alle aufhängen?«, fragte Ruth.
Alle waren irgendwie sauer auf ihn, warfen ihm Sehnsucht nach Vergangenem vor, einen regressiven Geschmack für alles Alte, Gleichgültigkeit gegenüber allem, was in der Vergangenheit ungerecht war oder Leiden verursacht hatte.
»Wir leben in einer anderen Zeit«, sagte Ruths Mann. »Jede Generation glaubt, dass die Vergangenheit zwangsläufig besser war. Als ich ein Junge war, brauchte man seine Haustür nicht abzuschließen, der Rock ’n’ Roll war besser, solche Sachen.«
Paul brachte nicht die Kraft auf zu erklären, dass er nur gemeint hatte, die Vergangenheit sei kostbar, weil sie anders war, nicht besser. Als ihre Gäste weg waren, erledigten Paul und Elise in erschöpftem Schweigen den Abwasch in der Küche: Sie besaßen keine Spülmaschine. Er arbeitete sich stoisch von Gläsern durch Teller zu schweren Töpfen durch, die im Spülwasser schwimmende Reiskörner und safrangelbe Fettaugen hinterließen. Elise packte die Reste weg, trocknete ab und stellte Geschirr zurück, versetzte die Räume wieder in den ursprünglichen Zustand und schob den schweren Tisch geräuschvoll über die Fliesen. Ihr sorgfältig drapiertes rotes Stretchkleid hatte seine Form verloren und hing schlaff über ihrem Bauch, und im Deckenlicht, das sie nach dem Aufbruch der Gäste eingeschaltet hatten, glänzten ihre Wangen ölig. Paul fand, dass er sich ehrenvoll geschlagen hatte, wenn man bedachte, wie elend er sich den ganzen Abend gefühlt hatte, in der Flut von sinnlosem Geschwätz, an das sich am nächsten Tag niemand mehr erinnern würde. Elise verstand Geselligkeit als eine Aneinanderreihung komplizierter Verpflichtungen, als gegenseitiges Gefälligsein, während er keinen Sinn in Gesprächen sah, bei denen man nicht offen seine Meinung sagte. Die Ironie war, dass sie sich auf einer Party kennengelernt hatten, bei der Elise ihn aus einer Auseinandersetzung gerettet hatte, die fast zu Handgreiflichkeiten geführt hätte. Warum wurden Frauen von solchen störenden Reibungskräften in Männern angezogen, die sie dann später zu glätten versuchten?
Im Bett drehte Elise Paul feindselig und erschöpft den Rücken zu. Normalerweise schlief er an die Landschaft ihres Körpers geschmiegt ein; jetzt aber lag er verstoßen am kalten Bettrand und wusste nicht, wohin mit seinen Armen und Beinen. Manchmal erschien seine Frau ihm kleinlich und in Eitelkeit verfangen zu sein. Dann wieder war sie übermächtig und übertraf ihn; er war kleiner, er war das Defizit, er war der Lahme. Vielleicht lag er falsch, was Dinner-Partys anging. Vielleicht kam es wirklich nur auf Freundlichkeit an.
In seinem Arbeitszimmer versuchte Paul zu schreiben, aber etwas lenkte ihn ab, blockierte das Licht am Fenster. Becky, die auf der Ferse kauerte, klopfte an die Scheibe und winkte ihn dringend in den Garten. Offenbar wollte sie ihm etwas zeigen, das sie gebastelt hatte: Wie ihre Mutter war sie handwerklich begabt. Aber sie ging im Gras auf und ab und sprach, als ahmte sie einen Erwachsenen nach, mit bedächtiger Stimme in das rosa Handy, das sie zu Weihnachten bekommen hatte, wedelte mit den Händen, verzog übertrieben das Gesicht. Paul war gegen das Handy gewesen; dafür war sie mit Sicherheit noch zu jung.
»Und wie läuft es so bei dir?«, fragte Becky leutselig in das Handy.
Unterdessen gab sie Paul mit den Augen und der freien Hand Zeichen, zeigte auf das Handy, bewegte stumm die Lippen. »Wie toll«, sagte sie. »Und wo wohnst du? Ist es da schön? Willst du mit Daddy reden? Ich hole ihn schnell.«
Paul begriff, dass es offenbar Pia war.
»Sie machen sich Sorgen«, erklärte Becky Pia, »aber auf eine nette Art.«
Sie winkte Paul zu sich und presste ihm dann rasch das Telefon ans Ohr, als könnten sie Pia verlieren, wenn sie sie nicht darin gefangen hielten. Paul befürchtete kurz, dass sie weg wäre. »Pia? Pia? Bist du da?«
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sollte er erwähnen, dass er sie neulich in der U-Bahn gesehen hatte? Das könnte sie verschrecken und so aussehen, als spionierte er sie aus und wüsste alles über sie. Als sie jünger war, hatte er wochenlang nicht mit ihr gesprochen. Jetzt sah er ihr beharrliches Schweigen in der Leitung als etwas Kostbares, und er hatte Angst, ein falsches Wort zu sagen.
»Bist du da?«
»Hallo, Dad.«
Ihre Stimme klang normal, doch dahinter drang ein unbekanntes Echo zu ihm, wo immer sie sein mochte. Er bot sein ganzes Geschick auf, um sie aufzumuntern und ihrem Gespräch keine allzu große Bedeutung beizumessen. Pia versicherte ihm, es ginge ihr gut, beide erwähnten das Studium nicht, er fragte nicht, bei wem sie wohnte oder was sie vorhatte, und er wollte ihr am Telefon auch nichts vom Tod ihrer Nana erzählen. Noch während er sie beruhigte, überkam ihn die alte Gereiztheit darüber, dass er ihr alles aus der Nase ziehen musste: Sie sprach in kurzen, widerwilligen Wortkaskaden, durchsetzt mit den slangartigen Einsprengseln, die Kinder der Mittelschicht so gern benutzten. »Komischerweise«, sagte er, »muss ich am Donnerstag sowieso nach London.« (Eine Lüge, die er sich spontan ausdachte.) »Wollen wir uns nicht treffen? Wo immer du willst. Pia, bist du noch da?«
Читать дальше