»Das ist Marek«, sagte Pia. »Das ist mein Dad.«
Marek streckte die Hand aus.
Paul hatte geahnt, dass Pia vermutlich mit einem Freund zusammenlebte, doch er hatte sich jemanden in ihrem Alter vorgestellt, jemanden wie James Willis oder vielleicht einen Kommilitonen, der sein Studium abgebrochen hatte; an einen Erwachsenen hatte er nicht eine Sekunde gedacht. Dieser Mann war zwar kein Hüne, sondern mittelgroß und leicht gebaut, aber er hatte nichts Jungenhaftes oder Unfertiges an sich. In seiner Schlankheit schien sich eine Energie und Autorität zu bündeln, auf die Paul nicht im Geringsten vorbereitet war. Sein dunkles, lockiges Haar war raspelkurz geschnitten, wie eine enge Lammfellmütze: In dem düsteren Licht sah er aus wie mindestens dreißig. Er drückte Pauls Hand fest und kurz, dann ließ er sie los; in der anderen Hand hielt er ein mit Tabak gefülltes Zigarettenpapierchen. Als er fertiggedreht hatte, leckte er rasch und routiniert über das Papier, dann bot er Paul Tabak und Papierchen an.
»Rauchen Sie?«
Paul antwortete, er rauche schon lange nicht mehr.
»Es stört Sie hoffentlich nicht?«
Der Mann zündete seine Zigarette an, ohne Pauls Antwort abzuwarten, aber auf eine mehr oder weniger kam es in diesem Zimmer ohnehin nicht an. Falls er Pole war – Marek war doch bestimmt ein polnischer Name? –, wusste er vielleicht nichts über die Auswirkungen des Rauchens auf ein ungeborenes Kind. Aus polnischer Sicht war die ganze Angst vielleicht nur albernes Getue. Konnte das wirklich Pias Liebhaber sein? Schließlich hatte jemand auf dem Sofa geschlafen. Vielleicht schätzte Paul die ganze Situation falsch ein.
»Wir haben keine Milch.« Pia hielt immer noch die schmutzigen Teller in der Hand, die sie aufgesammelt hatte. »Aber ich kann Kaffee machen, wenn es dir nichts ausmacht, ihn schwarz zu trinken.«
»Mach Kaffee«, sagte Marek.
Er klang auf liebevolle und unverschämte Weise intim. Pia lächelte unwillkürlich. »In dieser Wohnung ist es so heiß!«, sagte sie. Mit der freien Hand zog sie mühsam eine Jalousie halb hoch und öffnete dann das Fenster. »Eigentlich gibt es hier draußen einen Dachgarten, aber keiner kümmert sich darum.«
Der Stadtlärm war plötzlich bei ihnen im Zimmer, dazu das weiße Licht, in dem ihre Gesichter aussahen wie geschält. Marek hatte einen schönen, runden Kopf, aber seine attraktiven Züge wirkten trotz seines Lächelns angespannt; seine Augen waren nicht groß, aber tiefschwarz und von dichten Wimpern gesäumt, dunkle Höhlen in einem hellen Teint. Jack Vettrianos Paar, das auf einem Strand unter einem Schirm tanzt, hing ziemlich schief an der Wand; außerdem ein Foto von einer Giraffe in der Savanne. Das hellbraune Kunstledersofa zeigte Risse. Das Fenster überblickte einen Parkplatz und dahinter einen weiteren Flügel des Wohnblocks. Zwischen zwei Fußwegen befand sich ein tiefer gelegenes, mit Erde aufgeschüttetes Areal; das hochgeschossene Unkraut war in der Hitze abgestorben und vertrocknet.
»Ist das Ihre Wohnung?«, fragte er Marek.
»Sie gehört meiner Schwester. Sie lässt uns hier wohnen. Als Pia bei ihrer Mutter ausgezogen ist, konnte ich sie nicht mit zu mir nehmen, da war es nicht schön.«
»Das ist eine äußerst merkwürdige Situation«, sagte Paul. »Meine Tochter ist offenbar schwanger. Oder bilde ich mir das nur ein? Was geht hier vor?«
Pia errötete und zog verlegen die Strickjacke über ihren Bauch. »Ich war mir nicht sicher, ob du es merkst.«
»Mach Kaffee«, sagte Marek. »Ich rede.«
»Und du hast diesen Stecker aus der Lippe genommen.«
Pia nickte in Richtung Marek. »Er hat ihm nicht gefallen.«
»Mir auch nicht«, sagte Paul. »Aber für mich hast du ihn nicht rausgenommen.«
Marek lachte.
»Eigentlich würde ich gern allein mit Pia reden«, sagte Paul. »Lass uns rausgehen und ein Café suchen.«
Er merkte, wie die beiden sich über Blicke heimlich austauschten.
»Hier geht es auch«, sagte Marek. »Sie will hierbleiben.«
Paul folgte Pia in die Küche, wo sich ungewaschene Töpfe und Geschirr in der Spüle stapelten und der Mülleimer zu voll war, um ihn zu schließen. »Wir haben Mäuse«, sagte sie mit dem Rücken zu ihm und füllte Wasser in den Kessel. »Die sind echt süß.«
»Können wir nicht irgendwo hingehen? Wir müssen reden.«
»Es hat keinen Sinn, Dad.«
»Was geht hier vor, Liebes? Was hast du dir da eingebrockt?«
»Ich wusste, du würdest es nicht verstehen«, sagte sie. »Aber ich will genau das.«
»Versuch es. Versuch es mir zu erklären.«
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen; ihre Schultern waren angespannt. Er erinnerte sich, wie sie ihm in den Museen, in die er sie früher mitgenommen hatte, mit müden Beinen auf dem eiskalten Fußboden hinterhergeschlurft war und widerwillig den Strom seines Wissens über sich hatte ergehen lassen, der ihr vermutlich endlos vorgekommen war.
»Na schön«, sagte er. »Wenn es das ist, was du willst, ist es in Ordnung.«
Sie machte Instantkaffee, spülte schmutzige Becher unter dem Wasserhahn aus und rieb die dunklen Ränder darin mit dem Finger weg. Er fragte, ob sie schon bei einem Arzt gewesen sei, was sie bejahte und dass sie nächste Woche mit Anna, Mareks Schwester, zu einem Termin im Krankenhaus gehe.
»Du denkst an eine Abtreibung?«
Sie war schockiert. »Nein! Dafür ist es zu spät. Viel zu spät!«
Es sei nicht klar, sagte sie, wie weit genau die Schwangerschaft fortgeschritten sei; offenbar gab es Unklarheiten wegen ihrer Zeitangaben. »Sie warten auf den Scan. Dann wissen sie es genau.«
Sie schien sich dem Ganzen – den Zeitangaben, Terminen und Unvermeidbarkeiten – in verträumter Passivität ergeben zu haben: Am liebsten hätte er sie wachgerüttelt. Während sie sich unterhielten, konnte Marek im Nebenzimmer zweifellos alles mithören, in dieser Wohnung, in der es keine Privatsphäre gab. Paul hatte das Gefühl, er müsse Pia von ihrer Großmutter erzählen, konnte sich aber nicht dazu durchringen, es vor einem Fremden zu tun. Als sie inmitten des Chaos von Laken, Bettdecke und überquellenden Aschenbechern im Wohnzimmer vor Pias schrecklichem Kaffee saßen und sich unterhielten, versuchte er herauszufinden, wie Marek seinen Lebensunterhalt verdiente und wie die Aussichten standen, Pia und ein Kind zu finanzieren. Während der gesamten Unterhaltung spuckte der Fernseher seine Nachrichten aus: Irak, der Zeitpunkt von Blairs Rücktritt, ein bei einem Unfall tödlich verunglückter Gleisarbeiter, das in Portugal entführte Kind noch immer vermisst. Das Gequassel lenkte Paul ab, doch die anderen störte es nicht. Angesichts seiner eigenen Geschichte mit Pia spürte er, wie absurd es war, dass er die Rolle des beleidigten, schützenden Vaters spielte; und es sah fast so aus, als ahnte Marek das, denn amüsiert versuchte er, ihm über diesen Zwiespalt hinwegzuhelfen.
»Keine Sorge, Geld ist genug da. Wir werden auch eine schönere Wohnung als die hier finden, viel schöner. Alles wird gut.«
Er sagte, er arbeite im Import-Export-Geschäft, polnische Delikatessen. Er wolle Geld machen, indem er in jeder Stadt und jeder Straße polnische Läden eröffnete. War er ein Hochstapler oder ein Phantast? Der Zustand der Wohnung ließ kaum auf einen erfolgreichen Unternehmer schließen: Es sei denn, er handelte mit Drogen, in kleinem Maßstab. Paul hatte in schlimmeren Zimmern als diesem gehaust, vor zwanzig Jahren, als er in dieser Szene war. Alles an der Wohnung und der Situation machte ihn misstrauisch und ließ ihn um Pia fürchten. Und dennoch konnte er sich, während sie sich unterhielten, allmählich vorstellen, welche Macht von diesem Mann ausging, dass sie ihm vertraute. Lächelnd, mit der wackelnden Zigarette im Mund, gestikulierte er viel mit den Händen und war irgendwie lustig, ohne etwas besonders Lustiges zu sagen: Gleichzeitig strahlte er eine ernsthafte Kompetenz aus, als stecke hinter der unglaublichen Oberfläche seiner Worte noch eine andere ergreifende und melancholische Botschaft.
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