»Aber jetzt bin ich schon mal da. Lass mich rein.«
Es folgte eine Pause, dann Resignation. »Ich komme nach unten.«
Als sie erschien, trug sie dieselbe schwarze Strickjacke wie beim letzten Mal, über einem rosa Nachthemd und Hausschuhen. Ihr Gesicht war teigig, und sie war ungekämmt, ihre Haare hingen lose über den Schultern; er schätzte, dass sie gerade aus dem Bett kam. Unter ihrem Nachthemd zeichnete sich eindrucksvoll ihr geschwollener Bauch ab.
»Ich hab vergessen, dass du heute kommst.«
Als er ihr nach oben zur Wohnung folgte, beflügelte ihn etwas an der Umgebung, während er gleichzeitig fest entschlossen war, Pia hier rauszuholen. Er wappnete sich für eine erneute Begegnung mit Marek, wollte ihm genauer auf den Zahn fühlen, was immer er dabei herausfinden würde: Als er feststellte, dass außer Pia niemand zu Hause war, war er fast enttäuscht. Pia sagte, sie seien ausgegangen.
»Sie?«
»Marek und Anna.«
Der Fernseher lief natürlich. Die Wohnung sah etwas besser aus als beim letzten Mal: Das Bettzeug lag gefaltet auf dem Fußboden, die Jalousien waren halb hochgezogen. Trotz der offenen Fenster roch es penetrant nach Marihuana. Vielleicht war Pia doch nicht im Bett gewesen, sondern hatte aufgeräumt: In der Küche stand ein Stapel Geschirr in einer Schüssel mit frischem Seifenwasser, und während sie wartete, dass das Teewasser kochte, spülte sie ein paar Teller ab und stellte sie aufs Abtropfbrett. Als Paul sich nach ihrer Schwangerschaft und dem Termin im Krankenhaus erkundigte, wurde ihr Gesichtsausdruck genauso vage wie beim letzten Mal. Dem Scan zufolge gingen die Ärzte von der achtundzwanzigsten Woche oder so aus. Alles sei gut.
»Siehst du. Ich hab dir gesagt, dass es für einen Abbruch zu spät ist.«
»Und willst du das Baby behalten? Oder gibst du es zur Adoption frei?«
»Keine Ahnung. Wir werden sehen. Ich hab noch nicht entschieden, was ich mache.«
Sie sagte das ganz nebenbei, als ginge es um eine Entscheidung zwischen zwei Studienfächern.
»Ernährst du dich richtig? Musst du nicht Vitamine und so zu dir nehmen?«
»Darum kümmert sich Anna.«
»In dieser Wohnung wird geraucht. Du weißt sicher, wie schädlich das für die Entwicklung eines Fötus ist.«
»Ach, Dad.«
»Was denn?«
»Als ich klein war, hast du ständig in meiner Nähe geraucht. Ich hab dich immer angefleht, damit aufzuhören.«
»Ach ja? Das ist nicht dasselbe. Außerdem, nur weil ich ein Idiot war, musst du nicht auch einer sein.«
Pia zog sich im Schlafzimmer an, während Paul seinen Tee trank. Als sie herauskam, trug sie ein neues Stretchtop, das ihr, wie sie sagte, Marek gekauft habe, grau mit riesigen gelben Blumen; es spannte über ihrem Bauch und betonte ihn, wie das bei Schwangeren jetzt Mode war. Dann setzte sie sich zu ihm aufs Sofa und schminkte sich geschickt und routiniert, schaute dabei hochkonzentriert in einen kleinen Handspiegel und trug erstaunlich viel Zeug auf: Make-up, um ihre Hautunreinheiten abzudecken, blauen Kajal um die Augen, blaue Wimperntusche, Lidschatten, hellen Lippenstift.
»Was ist?«, fragte sie nervös, als sie fertig war und Flaschen und Tuben in ein Schminktäschchen zurückpackte. »Bin ich zu stark geschminkt?«
Paul fand das viele Make-up auf ihrem Gesicht bedenklich. Als sie aufstand, um ihr Haar zu bürsten, war er verblüfft und hatte das Gefühl, als wäre eine neue Person bei ihnen im Zimmer. Er stellte sich ihren Tagesablauf vor – lange schlafen, halbherzig aufräumen, anziehen und schminken, auf die Rückkehr ihres Liebhabers warten. Als er fragte, ob sie die Uni nicht vermissen würde, schauderte sie, als hätte er sie an ein anderes Leben erinnert.
»Gott, nein. Ich habe mich dort so elend gefühlt.«
»Wenn du ein Baby hast«, sagte er, »wird sich einiges ändern. Aufstehen um drei Uhr nachmittags ist dann vorbei.«
»Du traust mir nie zu, dass ich etwas gut mache.«
Er versuchte ihr zu erklären, dass er das so nicht gemeint habe; er wolle nur nicht, dass das Baby ihren Höhenflug ruiniere und sie zu früh auf die Erde zurückhole. »Und ich muss deiner Mutter endlich etwas sagen. Sie ist außer sich vor Sorge, wie du dir vorstellen kannst.«
»Sag ihr, dass du mit mir gesprochen hast und es mir gut geht. Sag ihr, dass ich mich bald melde.«
»Warum willst du sie nicht sehen? Nur um sie zu beruhigen.«
»Das würde nicht funktionieren, oder? Sie wäre alles andere als beruhigt, wenn sie wüsste, was Sache ist. Sie wäre hyperaktiv. Du kennst sie.«
Paul empfand es als niederträchtig, Pias Geheimnis zu bewahren, als versuche er, billige Siege über Annelies zu erringen und mit ihr um das Vertrauen ihrer Tochter zu buhlen, wofür er sich angesichts seiner Vorgeschichte keinerlei Rechte verdient hatte. Pias abwehrende Haltung gegenüber ihrer Mutter überraschte ihn.
»Sie akzeptiert, dass du erwachsen bist, du darfst frei entscheiden, was du willst.«
Vor dem Spiegel zog Pia die Bürste durch ihr Haar und drehte sich um. »Genau das will ich. Und ich werde sie besuchen, aber jetzt noch nicht.
Als Marek und Anna zurückkamen, wurde Paul klar, dass Anna, genau wie ihr Bruder, eine starke Persönlichkeit war und dass Pia sich von beiden angezogen gefühlt hatte, nicht nur von ihm. Beide bewegten sich schnell und energisch, leicht herablassend, sie füllten den Raum aus; Paul erkannte, dass sie überzeugend wirkten, auch wenn er nicht sicher war, ob er sie mochte, und noch nicht verstand, was genau ihre Beziehung zu seiner Tochter ausmachte oder ob diese Beziehung für sie gesund war. Marek begrüßte Pia mit derselben Geste wie beim letzten Mal, zupfte sie liebevoll am Haar; in seiner Nähe rutschte Pia in eine verwirrte Unterwürfigkeit ab. Paul konnte fast verstehen, dass sie in dem geblümten Oberteil und mit dem geschminkten Gesicht, gepaart mit dem hellen Teint und der Trägheit, die durch die Schwangerschaft verstärkt wurde, durchaus anziehend wirken konnte.
Annas Jeans und weißes T-Shirt schmiegten sich eng an ihre schlanke Figur: Vermutlich war sie nicht viel älter als Pia, doch an ihr wirkte alles vollkommen und gefestigt. Ihr glattes, rotbraun gefärbtes Haar war auf Schulterlänge gestutzt; ihr schmales Gesicht war schön, jungenhaft, die Haut unter den Augen leicht bläulich, auf einer Wange ein dunkles Muttermal. Als sie einander vorgestellt wurden, meinte Paul, allein durch das Berühren ihrer Hand zu erkennen, dass sie keine Engländerin war: Unter der feinkörnigen Haut glaubte er, leichtere Knochen zu spüren, einen grazileren Bewegungsmechanismus. Ihre Nägel waren schwarz lackiert, die Finger von Nikotin gefleckt. Anna fing an, mit Pia zu schimpfen: Ob sie anständig gegessen habe? Sie brauche ein Frühstück und ein Mittagessen. »Wann bist du aufgestanden? Schlaf nicht zu viel, du brauchst Bewegung.«
Pia verteidigte sich halbherzig und genoss das Theater, das um sie gemacht wurde.
»Das ist ein Familientreffen, stimmt’s?« Marek brachte eine Flasche Schnaps aus dem Kühlschrank in der Küche und drei kleine Gläser. »Die neue Familie. Gut, dass wir zusammen sind.«
»Schöne Familie«, sagte Anna, »nur hat sie kein Zuhause.«
»Anna hat die Nase voll von uns«, sagte ihr Bruder verständnisvoll. »Wir bringen ihre schöne, aufgeräumte Wohnung durcheinander.«
»Überrascht mich nicht«, sagte Paul. »Es ist eine kleine Wohnung.«
»Wir finden bald eine größere. Dann bist du uns los, Anna, und wirst uns vermissen.«
Pia sagte, sie wolle wieder im Café arbeiten, das bringe etwas Geld. Sie bräuchten mehr als das, scherzte Marek liebevoll, viel mehr. Der eiskalte Sliwowitz, von dem Pia nichts trank, schmeckte köstlich in diesem von der tiefstehenden Sonne überhitzten Raum. Eigentlich war Paul gekommen, um Pia zu überreden, wenigstens für eine Weile mit nach Hause zu kommen, um alles zu überdenken; doch er merkte, wie er selbst immer weiter in ihr Leben hier hineingezogen wurde, ohne eine der Erklärungen zu erhalten, die er eigentlich verlangen sollte. Niemand schien zu glauben, dass etwas der Erklärung bedürfe. Er hatte keine Ahnung, ob die Möglichkeiten, die Marek und Anna lebhaft diskutierten, realistisch waren. Angeblich hatten sie sich Geschäftsräume angesehen, waren anscheinend aber auch gleichzeitig an Kleinhändler herangetreten, die sie mit Waren beliefern wollten. Marek bat Paul, ihm das Prinzip der Erbpacht zu erklären, wozu er nicht in der Lage war, weil er selbst nicht wusste, wie sie im Einzelnen funktionierte. Waren die beiden wirklich imstande, Geld zu verdienen und sich um Pia zu kümmern? Beide sprachen gut Englisch, aber manchmal verfielen sie ins Polnische, und dann sah Paul von einem zum anderen, als sähe er einen Film ohne Untertitel, aus dem er vielleicht schlau würde, wenn er sich nur stark genug konzentrierte. Was würde Annelies von ihm halten, wenn sie sehen würde, wie er sich verführen ließ – oder Elise? Marek schenkte Paul mehrere Male nach.
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