Allem Anschein nach hatten sie sich über Mareks Schwester kennengelernt. Als Pia noch studierte, hatte sie einen Teilzeitjob in einem Café gehabt, in dem die Schwester arbeitete. Paul erinnerte sich, dass Annelies in dem Café nach Pia gesucht und man ihr mitgeteilt hatte, sie habe gekündigt. Sie hatte gekündigt, erfuhr er jetzt, weil ihr am Anfang der Schwangerschaft ständig übel war.
»Aber das ist jetzt vorbei, und es geht mir gut, richtig gut. Langsam sollte ich mich nach was Neuem umsehen.«
Marek zupfte sie liebevoll am Haar, als wollte er sich in seiner Rolle als derjenige, der alles im Griff hatte, vor Paul beweisen. »Mir wäre lieber, wenn sie einfach zu Hause bleibt, auf sich aufpasst und die Wohnung hübsch macht.«
Wie es aussah, gelang es ihr nicht besonders gut, die Wohnung hübsch zu machen. Aber sie waren eben erst aufgestanden. Vielleicht sah die Wohnung im Laufe des Tages ja besser aus.
Als Paul aufbrach, bat er Pia, ihn nach unten zu begleiten. Außer Sichtweite der Wohnungstür, allein auf einem Absatz im Treppenhaus, das nach billigem Desinfektionsmittel roch, erzählte er ihr von ihrer Großmutter. Während ihr dämmerte, was er ihr mitteilte, verzog sich ihr Mund zu einem hilflosen, hässlichen Weinen. Er dachte, wie sehr sie sich doch von seinen anderen Töchtern unterschied. Sie schienen das fertige, weltgewandte Bewusstsein ihrer Mutter zu haben, als strahlte aus jeder ihrer Gesten und jeder Einzelheit ihres Äußeren ein besonderer Glanz. Pia war zwar in der Stadt aufgewachsen, aber sie war ungeschliffen und schlicht, mit ihrem dicken strohgleichen Haar und den grobschlächtigen Händen. Vielleicht liebten ihre Halbschwestern sie genau deshalb so sehr und nahmen regen Anteil an ihrem Eintritt ins Erwachsenenleben. Sie riss sich zusammen, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich das Gesicht ab.
»Jetzt geht es wieder.«
»In diesem Zustand kann ich dich nicht zurücklassen. Willst du nicht doch lieber mit mir kommen? Wir gehen einen anständigen Kaffee trinken.«
»Es war nur der Schock, mehr nicht. Weil ich keine Ahnung hatte.«
»Wir konnten dir das doch nicht als Nachricht auf dem Handy hinterlassen.«
Konnte sie über den Tod einer alten Frau, die sie seit Monaten nicht besucht hatte, tatsächlich so untröstlich sein? Als Kind hatte sie den Tod ihrer Hamster bitterlich beweint. Wahrscheinlich speisten sich ihre Vorstellungen von einem Baby aus demselben Vorrat an stereotypen Gefühlen, als wäre es ein Kätzchen oder eine Puppe, mit der sie spielen konnte. Es gelang ihm nicht, sie zu überreden, mit nach draußen zu kommen; sie verabschiedeten sich am Eingang des Wohnblocks. In letzter Minute klammerte sie sich an ihn und bat ihn, ihrer Mutter nichts zu sagen. Er konnte sich nicht annähernd Annelies’ Reaktion vorstellen, sobald sie die ganze Wahrheit über die Lage ihrer Tochter erfuhr. Ihm war angst und bange bei der Überlegung, ob er sie einweihen sollte oder nicht.
»Sag ihr noch nichts, bitte, jetzt noch nicht. Du hast es versprochen.«
Nach der Rückkehr von seinem Besuch in London stellte Paul fest, dass ihm die frühere Freude an seinen täglichen Verrichtungen – die Stunden in seinem Arbeitszimmer, die langen Spaziergänge, das Abholen der Kinder vom Bus nach der Schule, die Sprachkurse für ausländische Studenten an der Universität – in einem einzigen kurzen Augenblick abhandengekommen war. Er war unruhig, konnte nicht am Computer sitzen. Elise arbeitete an einem Satz zierlicher edwardianischer Esszimmerstühle; sie schienen ihre eigene ausschweifende Party zu feiern, wie sie da gedrängt auf dem Steinboden in ihrer Werkstatt standen, für einen gemütlichen Plausch zusammengerückte, einander zugewandte Grüppchen, deren Innereien aus den Rissen in dem schmutzigen alten purpurnen Samt hervorquollen.
»Was ist los mit dir?« Sie sah ihn fragend an und legte die Metallzange beiseite, die sie zum Heraushebeln der Nägel benutzte. Auf ihrem Gesicht waren verschwitzte Schmutzstreifen, und die Luft in der Werkstatt war schmierig vom Staub, der sich seit hundert Jahren in den Stühlen angestaut hatte. »Was ist in London passiert? Hat ihnen die Idee für die Radiosendung nicht gefallen?«
»Das ist nicht das Problem.«
Vorerst erwähnte er nichts von seinem Besuch bei Pia, obwohl er die missliche Angelegenheit gern weitergereicht und sich davon befreit hätte. Als Annelies anrief, sagte er ihr nur, Becky habe mit ihr gesprochen, Pia gehe es gut. Sie wohne bei Freunden.
»Warum will sie mich dann nicht sehen, Paul? Was habe ich ihr Schreckliches getan?«
Paul hatte vor, Pia in der folgenden Woche wieder in London zu besuchen. Er würde ihr klarmachen, dass er mit ihrer Mutter sprechen musste und nicht mehr länger schweigen konnte.
Auf der Fahrt nach Cardiff, wo er Gerald besuchen wollte, wirkten die heruntergekommenen Außenbezirke der Stadt verblichen und nackt in der fahlen Sonne: Wellblechschuppen aus dem Versandhandel, die Rückseiten neuer Wohnsiedlungen, ein weiteres Billighotel aus rotem Backstein. Manchmal empfand Paul ihre Entscheidung für das Landleben als Fehler und wünschte, sie würden in der Stadt leben. Geralds Wohnung befand sich im obersten Stockwerk eines viktorianischen Hauses neben einem Park. Die gesamte Hitze im Haus stieg in seinen Dachboden hinauf und knallte durch die Schieferplatten auf dem Dach; obwohl sämtliche Fenster weit offen standen, war die Luft stickig. Während Gerald Tee kochte, stand Paul am Fenster und schaute hinaus auf die schattige, ausladende Krone einer Blutbuche, einer von vielen, die an der Straße entlang des Parks gepflanzt waren. Der Laster eines Kesselflickers fuhr auf der Suche nach Altmetall im ersten Gang vorbei, und ein Junge, der zwischen den verrosteten Kühlschränken und Herden stand, sang »Altes Eisen, habt ihr altes Eisen«. Paul sagte, er sei der letzte der alten Straßenhöker, volltönend und schneidend wie ein Muezzin. Obwohl Gerald entgegnete, dass die Kesselflicker alte Frauen um ihr Geld prellten, konnte er Pauls aufgeregte, ungeduldige Stimmung nicht verderben. Er war voller Emotionen, ausgelöst durch ein lange zurückliegendes schmerzvolles Ereignis. An seinem Platz am Fenster rechnete er halbwegs damit, eine junge Frau zu sehen, die er gekannt und mit der er eine Affäre gehabt hatte; sie hatte in der Nähe gelebt und war oft im Park spazieren gegangen. Er erinnerte sich an ihre fast schon religiöse Einstellung zur Literatur und meinte zu sehen, wie sie mit großen Schritten den Weg unter den Bäumen entlangging – groß und ernst, attraktiv, mit schrägen, zweifelnden braunen Augen. Aber wahrscheinlich hatte sie ihr Haus inzwischen verkauft und war weggezogen.
Gerald saß im Schneidersitz da, um seinen Tee zu trinken und sich einen Joint zu drehen, wobei ihm als Unterlage ein Buch diente, das er gerade las und auf den Knien balancierte. Es handelte von den Neuplatonikern des frühen Christentums, Plotin und Porphyr. Er erklärte eine Idee aus dem Buch – dass die Erfindung von Formen durch die Vorstellungskraft des menschlichen Verstandes eine Nachahmung und Weiterführung der Arbeit der Weltseele sei, die Formen in der Natur erfinde. Paul rauchte nicht mehr oft Marihuana – Elise mochte es nicht, sie sagte, er sei dann langweilig und schnarche –, doch an diesem Nachmittag brauchte er es. Die schläfrige Hitze und das Gras riefen ihm die Jahre zwischen seiner ersten und zweiten Ehe in Erinnerung, als er an der Sprachenschule unterrichtet hatte. Paul war nach Paris gezogen, und Gerald war ihm gefolgt. Der Schlafrhythmus, den Paul sich damals angewöhnt hatte, sei »katastrophal« gewesen, sagte jedenfalls Elise; er hatte nur stundenweise an der Schule unterrichtet, war oft bis drei, vier Uhr morgens aufgeblieben, um zu lesen oder sich mit einem kleinen Kreis von Freunden zu unterhalten.
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