All diese Kleidungsstücke, die Jeremy trägt – diese Beweisstücke –, haben eine Geschichte. Die Beweisstücke tragen etwas von ihrem gemeinsamen Leben in sich. Sie enthalten ihre Liebe.
»Außerdem kann man in der Ecke des Schrankes das Luftgewehr sehen«, fährt Dixon fort, »das laut der Mutter dem Opfer Jeremy gehörte.«
In der Polizeistation verbirgt Lorilei das Gesicht in ihren Händen und beginnt zu schluchzen.
10
New Jersey, 1986
Für diesen nächsten Teil der Geschichte muss ich auf einen einzigen knappen Bericht meiner Mutter zurückgreifen, den sie Jahre später erzählte und niemals wiederholte; ich selbst kann kaum mit eigenen Erinnerungen daran aufwarten. Lassen Sie mich die Geschichte also aus diesen Hinweisen rekonstruieren. Es ist das Jahr, nachdem meine Mutter uns von Jaqueline erzählt hat. Wir befinden uns aktuell auf der zu Massachusetts gehörenden Insel Nantucket, wo wir für den Sommer ein Haus gemietet haben. Unsere Großeltern haben wir ebenfalls mitgenommen. Elize ist vier Jahre alt, ein Püppchen mit langen blonden Haaren und einer Stupsnase. Seit einiger Zeit steht sie Modell für eine britische Kleidungsmarke, die Freunden meiner Eltern gehört, und gerade trägt sie eines ihrer typischen weißen Spitzenkleidchen. Vielleicht ist es das Kleid mit der grünen Schärpe, die zu ihrer Augenfarbe passt. Es ist früh am Abend, und das Haus ist voller Geschäftigkeit, da sich die Erwachsenen fürs Abendessen umziehen. Meine Schwester ist davongewandert, ein seltener Moment, in dem sie alleine ist, und klettert auf einen der mächtigen Polsterstühle im offiziellen Esszimmer des Hauses. Das Haus gehörte in den Walfang-Zeiten der Insel einem Seekapitän, und an den Wänden hängen dunkle Ölbilder lange verstorbener Töchter mit finsteren Mienen und goldenen Schildern darunter, auf denen ihre Namen stehen: Prudence, Virtue, Chastity – Klugheit, Tugend und Keuschheit. Meine Schwester dreht sich zu den komischen Gesichtern um und schneidet einem davon eine Grimasse. Sie versucht sich vorzustellen, was man ihr erzählt hat: dass jede dieser Frauen einst ein kleines Kind war, nicht anders als sie selbst.
Mit ihrer kleinen Faust umklammert sie eine Belohnung, die sie erst kurz zuvor bekommen hat: einen Fünfdollarschein.
Meine Mutter kommt aus der Küche herein, ein Glas Rotwein in der Hand, die Haare noch auf die weißen Plastiklockenwickler gedreht, ihr schwarzes Kleid am Rücken noch offen. »Ach, hier bist du!«, sagt sie und nippt abwesend an dem Wein. Dann bemerkt sie den Schein und fragt: »Liebling, wo hast du denn das Geld her?« Sie glaubt sicher, dass meine Schwester es aus ihrer offenen Geldbörse oder von der Kommode genommen hat. Ein kleiner Fehltritt, Anlass für kaum mehr als einen freundlichen Hinweis.
Aber die Antwort meiner Schwester ist: »Opa hat es mir gegeben.«
»Wirklich?«, fragt meine Mutter. Sie denkt immer noch, dass das hier eine harmlose Kindergeschichte ist. Es gibt auf der Insel einen Süßwarenladen, in dem man für einen Cent einen einzelnen zuckrigen Gummifisch oder einen Gummibären bekommen kann. Unser Großvater hat uns schon einmal dorthin mitgenommen, und für einen Vierteldollar durften wir eine weiße Papiertüte mit Süßkram füllen. Er verwöhnt uns, ebenso wie damals unsere Mutter und ihre Brüder, als sie klein waren. Er hatte immer Bonbons für sie in den Taschen. Meine Schwester ist ein bisschen zu jung für die Zahnfee, aber vielleicht – denkt meine Mutter – hat sie die fünf Dollar bekommen, weil sie ihm seinen Hut oder seinen Gehstock gebracht hat. Meine Mutter lässt sich auf das Spiel ein: »Und wie hast du dir das verdient?«
»Ich hab auf seinem Schoß gesessen«, antwortet meine Schwester.
Das Geflüster, das folgt, ist wie ein Messer in der Scheide, voll scharfer, aber beherrschter Dringlichkeit. Keine erhobenen Stimmen; Türen, die geschlossen bleiben. Hinter einer davon werde ich befragt, und ich weiß, dass ich nicht laut reden darf, weil meine Eltern nicht wollen, dass mein Großvater oder meine Großmutter oder mein Bruder uns hören. Ich gebe einfache Antworten: Ja, mein Großvater hat mich angefasst. Ja, das geht schon seit Jahren so. Sie stellen mir noch mehr Fragen – wo war das, woran kann ich mich erinnern, was war um mich herum zu sehen –, um Anhaltspunkte zum Zeitraum zu bekommen. Fünf Jahre, das ist die Antwort. Ich fange an zu weinen. Nicht wegen dem, was passiert ist. Sondern weil meine Mutter jetzt Bescheid weiß. Ein Teil von mir hat genau darauf gewartet – aber in erster Linie habe ich furchtbare Angst. Ich bin überzeugt, dass wir alle in Sicherheit sind, solange sie nur nicht diese Dinge über ihren Vater weiß. Dass es die schrecklichste Sache der Welt ist, laut auszusprechen, dass ein Vater zu so etwas fähig ist.
Sie stellen erst mir, dann meinen Schwestern genügend Fragen, um sich über die groben Tatsachen im Klaren zu sein. Dann gehen wir alle zum Abendessen.
Ist das möglich? Kann das stimmen? Kann es wirklich sein, dass sie uns alle in unserem Stammrestaurant jener Jahre – es trägt den Namen meines Großvaters Vincent – an einen großen, runden Tisch mit rot-weiß kariertem Tischtuch führen und einen Stuhl für den Mann zurechtrücken, über den sie gerade so etwas erfahren haben? Können sie sich einfach so seiner Ehefrau, meiner Großmutter, gegenübersetzen, die sie schützen wollen, indem sie die Sache vor ihr geheim halten? Wie oft sehen sie während dieses Abendessens wohl auf die Hände meines Großvaters und fragen sich, was diese Hände getan haben?
Oder projiziere ich mein eigenes Interesse an der Vergangenheit auf sie? Kann es wirklich sein, dass meine Eltern ihm gegenübersitzen und sich niemals, nicht ein einziges Mal die Taten vorstellen, die hinter den Worten stehen? Ist es möglich, dass sich das Gehörte nie als Geschichte vor ihren Augen abspielt?
Ich weiß nur, was danach geschieht: Meine Eltern reden nie mit meinem Großvater über das, was sie erfahren haben. Sie erwähnen es auch meiner Großmutter gegenüber nicht. Sie lassen nie erkennen, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Wir beenden den gemeinsamen Urlaub wie geplant. Wir kehren in das viktorianische Haus zurück. Meine Eltern laden die Großeltern nicht mehr ein, dort die Nacht zu verbringen, und der Missbrauch findet ein Ende, ohne dass irgendwer jemals irgendetwas sagt. Sie arrangieren die Erinnerung so sorgfältig wie ein Drehbuch.
Und wie zuvor fährt mein Vater weiterhin den großen grauen Chevrolet über die George Washington Bridge und in den Stadtteil von Queens, in dem meine Mutter aufgewachsen ist. Wie zuvor parkt er vor der braunen Tür des Ziegelhauses, in dem meine Mutter ihre Kindheit verbracht hat, in dem mein Großvater mit seinem Vinyljackett und der Schiebermütze auf dem Kopf auf seinen Ausflug wartet. Mein Vater streckt eine Hand nach meinem Großvater aus und nimmt mit der anderen seinen Gehstock entgegen. Wie zuvor bietet mein Vater meinem Großvater eine Schulter zum Anlehnen, und im Schneckentempo gehen sie zum Auto hinüber. Er hilft meinem Großvater hinein und verstaut den Stock hinter dem Sitz, dann schlägt er die Tür zu und geht zur Fahrerseite. Schließlich fährt er meinen Großvater über die Brücke zurück zu uns.
Die Menschen in dieser Geschichte wollen immer noch glauben, dass sie die Vergangenheit beherrschen können, sie ebenso säubern können, wie man einen Tatort reinigt. Sie wollen glauben, dass der Tatort, solchermaßen gereinigt, zu einem ganz normalen Schlafzimmer wird. Heute erklären mir meine Eltern, dass sie einen Psychologen konsultiert hatten, der ihnen sagte, es sei für ihre Kinder am besten, wenn sie sich selbst möglichst unbeeindruckt geben würden. Wenn sie die Dinge so gestalteten, als ob die Vergangenheit keine Macht, keine bleibende Bedeutung hätte.
Es ist nicht so, dass ich ihnen das nicht glauben würde. Nicht direkt. Aber ich wundere mich, wie gut dieser Rat ins Bild passt. Er spiegelt so exakt – zu exakt – das Schweigen wider, das ich von meinen Eltern schon kenne. Das Schweigen über die Wutausbrüche meines Vaters. Das jahrelange Schweigen über meine fehlende Schwester. Es ist ein Echo dessen – aber an dieser Stelle sind wir noch nicht angelangt –, was mit der Leiche meiner Schwester geschah.
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