Lucky sieht Ricky erwartungsvoll an.
»Hm«, macht Ricky.
Sie gehen los.
Mit drei Leuten und dem Kameramann, der direkt hinter Ricky herläuft, ist es eng auf der Treppe. Auf dem Fernsehbildschirm wird der Film dunkel wirken – die Körper kaum mehr als Schatten, Rickys schwarzes T-Shirt ein Fleckchen Nacht in der Düsternis. Der Winkel der Kamera lässt die Decke niedriger erscheinen, die Wände enger beisammen. Die Männer steigen wortlos die Treppe hinauf, ein rascher Schritt nach dem anderen, bis sie vor der Tür des Schlafzimmers stehen.
»Hier drin?«, fragt Lucky.
Ricky nickt und erinnert sich dann, dass er laut antworten soll. »Ja.«
»Wollen Sie noch etwas ergänzen, bevor wir reingehen?«, will Lucky von Dixon wissen.
»Ja, einen Moment noch«, erwidert der. Vielleicht kommen ihm jetzt, da es so weit ist, Zweifel daran, ob es klug war, Lucky die Angelegenheit zu überlassen. Schließlich ist das hier sein Fund. Hat nicht er Lucky überhaupt erst dazu bewogen, endlich etwas zu unternehmen? Er hat Ricky dazu gebracht, die Tat zu gestehen. Oder vielleicht will er auch nur noch einmal sichergehen, dass die Verhaftung absolut wasserdicht ist. Aus welchem Grund auch immer, er geht alles noch einmal durch. »Ricky, als wir Sie an der Tankstelle festgenommen haben und Sie mit mir im Auto saßen, habe ich Sie da in irgendeiner Weise bedroht?«
Ricky schüttelt den Kopf. »Nein.«
»War ich höflich zu Ihnen?«
»Ja.«
»Und ich habe nur gesagt: ›Ricky, sehen Sie mir in die Augen, von Mann zu Mann‹, und ich habe Sie über Ihre Rechte aufgeklärt. Und alles, was Sie mir gesagt haben, haben Sie freiwillig gesagt.«
»Ja, Sir.«
»Also gut.« Dixon nickt Lucky zu. Sie sind bereit.
Die Männer betreten den Raum. »Schnitt«, sagt Lucky, und der Junge mit der Kamera stellt die Aufnahme ab. Dann zu Ricky: »Zeigen Sie mir den Schrank.« Ricky setzt sich in Bewegung. »Nein, gehen Sie nicht hin. Deuten Sie einfach darauf.«
Ricky gehorcht.
»Das Kind ist da drin?«, fragt Dixon wieder. Er kennt die Antwort. Er war schon hier oben, während Lucky Ricky aus dem Wagen geholt hat. Aber er beobachtet Ricky jetzt. Sieht die kleinen Anzeichen von Unbehagen und Furcht, die durch seinen Körper zucken.
»Ja«, sagt Ricky.
»Ist er einfach nur so da drin oder …«
»Ich hab ihn in ein paar Decken gewickelt.«
Lucky tritt nach vorn und bedeutet Dixon und Ricky, das Zimmer zu verlassen. Dann geht er zum Schrank. Die weiße Farbe an der Tür ist schmutzig und abgeblättert. Die Tür steht weit offen. Innen befindet sich ein Bündel Decken, die gar nicht danach aussehen, als würden sie einen Körper verbergen. Einfach nur nach einem Bündel. Er wartet, bis er den Kameramann hinter sich weiß, dann nickt er. Der Kameramann startet die Aufnahme wieder. Lucky spricht langsam und deutlich. »Es ist 15.35 Uhr. Wir sind wieder in dem Raum. Es ist der 10. Februar 1992. Wir sind wieder im südöstlich gelegenen Schlafzimmer von Ricky Langley, unsere Fotografen sind mit ihren Aufnahmen fertig, und wir werden jetzt die Decke oder Überdecke entfernen oder was auch immer Ricky Langley benutzt hat, um die Leiche zu verbergen.«
Er leuchtet mit der Taschenlampe ins Innere des Schrankes. Der Lichtkegel lässt das Bündel gelb aufleuchten, ehe er weiterwandert, damit die Kamera den Umriss aufnehmen kann. Lucky tritt zurück ins Bild und fasst in den Schrank. »Wir nehmen das – ich lege hier einen Vorhang oder eine Tagesdecke in diese Tüte.«
Die Aufnahme ist von diesem Punkt an umständlich. Lucky kommentiert jeden Handgriff. Er will es offensichtlich um jeden Preis richtig machen. Lage um Lage entfernt er und zeigt der Kamera jedes Mal die entsprechende Decke, ehe er sie in die Plastiktüte packt.
Aber sehen Sie diesen ersten Sack, der dort in der Ecke darauf wartet, versiegelt zu werden, den Plastiksack mit der Aufschrift »Beweismaterial«, der keinen Zweifel daran lässt, was in der Tüte ist? Diese Tüte wird falsch beschriftet und mit einer anderen verwechselt werden, in der sich Kleidungsstücke befinden, die später sorgfältig von Jeremys Körper heruntergeschnitten werden. Sehen Sie den Sack, den Lucky als Nächstes füllt? Auch er wird falsch beschriftet und zusammen mit einer Tüte aufbewahrt werden, in der sich nichts von Bedeutung befindet.
Ich habe eine Kopie dieser Aufzeichnung gesehen. Ich habe zugesehen, wie Ricky und Lucky die Stufen zum Haus der Lawsons hinaufgegangen sind, habe Ricky in Handschellen zu derselben Haustür gehen sehen, vor der Jeremy ein paar Tage zuvor stand. Das Geständnis, das man mir in der Anwaltspraxis zeigte, das Band, das mich überhaupt erst auf diese Geschichte aufmerksam gemacht hat, wurde unmittelbar danach aufgenommen, nachdem Dixon und Lucky Ricky zurück zur Polizeiwache gebracht hatten. Ricky sah aus wie ein Kaninchen, seine Augen schossen unruhig hin und her, und er hielt seine gefesselten Hände unbeweglich im Schoß. Der Rest seiner Worte erreicht mich in einzelnen Erinnerungsfetzen, als könnte mein Körper das alles nur in geringen Dosen ertragen, immer nur ein kleiner Schluck, gefolgt von Schwärze.
Nur das Transkript – wenn ich es mir jetzt ansehe – bringt die Erinnerung dazu, sich zu setzen.
Die blaue Decke ist die letzte Lage, die Lucky entfernt und in die Kamera hält. »Um den unteren Teil der Leiche ist eine blaue Decke gewickelt, mit irgendeiner bunten Figur darauf, vielleicht Dick Tracy, die ein Gewehr in der Hand hat. Jetzt entfernen wir die Decke, um das Opfer ganz sehen zu können.«
Die Kamera hält sich nicht mit diesem Anblick auf. Sie streift das blonde Haar und strauchelt dann im Angesicht des Jungen. Aber in diesem Augenblick befindet sich auf Jeremys Lippe – zu klein, als dass die Kamera es erfassen würde, und überhaupt schaut niemand so genau hin, keiner will die Leiche so genau anschauen –, in diesem Moment befindet sich auf Jeremys Lippe ein einzelnes dunkles Schamhaar.
Später werden Proben aus Jeremys weißem T-Shirt geschnitten, Beweisstücke, an die sich Calton Pitre noch nach Jahrzehnten erinnern wird, und ihre Untersuchung ergibt, dass sich Spermaspuren auf dem T-Shirt befinden. Das Sperma wird als Rickys identifiziert. Aber dieses Haar auf der Lippe? Es stammt nicht von Ricky. Sie testen es zweimal, und zweimal kommt dasselbe Ergebnis zurück: nicht Rickys.
Ricky hat Jeremy getötet; daran gibt es keinen Zweifel. Und das Schamhaar könnte einfach von einer Decke abgefallen sein. Aber diese Decken gehören nicht alle Ricky, dazu sind es zu viele. Sie müssen auch von Joeys und Junes Bett stammen. Vielleicht ist das Haar in der Wäsche darauf gekommen.
Vielleicht aber auch nicht. Gehört das Haar zu Terry, der in diesem Moment noch am Leben ist, seinen Sohn noch nicht auf einen Motorradausflug mitgenommen hat und sich nicht im Haus, sondern an einem unbekannten Ort aufhält, während die Polizei ihre Suche vornimmt? Gehört das Haar also nicht dem verurteilten Sexualstraftäter, dem, von dem man weiß, wie gefährlich er ist, sondern dem Vater, der im Geheimen vielleicht ebenfalls ein Raubtier ist?
Lucky redet weiter. »Sie können hier eine einzelne Socke erkennen, die offensichtlich im Mund des Opfers ist. Unser Opfer trägt ein weißes T-Shirt, hellblaue oder türkise kurze Hosen mit einem gelben Streifen am Saum, weiße Socken, und die Stiefel, von denen die Mutter ausgesagt hat, dass er sie trug, waren auch hier drin.«
Aquamarin. Lorilei beschreibt die Farbe der Hose als aquamarin. Vier Tage zuvor hat sie sie aus dem Wäschetrockner genommen und zusammengelegt, sodass die beiden Seiten des Bundes sauber übereinanderlagen, hat die kleinen Hosenbeine sorgfältig zu einem Päckchen gefaltet und mit dem T-Shirt zusammen verräumt. Sie trug die Kleidungsstücke zu der Kommode, die sie und Jeremy sich in Melissas Haus teilten, und legte die Hose in die unterste Schublade, das T-Shirt in die darüber. Behutsam, als ob sie ein Kind ablegte.
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