»Ja«, antwortet Ricky. Er klingt elend.
Dixon setzt sich ans Steuer. Im Rückspiegel betrachtet er Ricky. Er registriert – dafür wurde er geschult –, dass Rickys Halsschlagader unter dem gesenkten Kinn heftig und schnell pulsiert. Registriert die Spannung in seinen Halsmuskeln und die zu Fäusten geballten Hände. Ricky sieht aus wie ein Mann, der sich verzweifelt wünscht, dass der gegenwärtige Augenblick nicht wahr ist.
Das ist der geeignete Moment, beschließt Dixon.
Er wendet sich zu ihm um. »Also, Ricky«, sagt er. Er kann Rickys Gesicht nicht sehen, nur seinen Scheitel, sein dunkles Haar. »Ich will, dass du mir in die Augen siehst, von Mann zu Mann.«
Ricky rührt sich nicht.
»Von Mann zu Mann, Ricky.« Dixon lässt seine Stimme ruhig und unbewegt klingen. Bei jemandem wie Ricky, der sein ganzes Leben als seltsam galt, einem Außenseiter, einem, den niemand respektiert, muss man ruhig klingen, das weiß Dixon. Als würde man ihn ernst nehmen. »Sieh mich an, Ricky.«
Einen kurzen Moment blickt Ricky auf, und als er seine Augen sieht, weiß Dixon Bescheid. Die Pupillen sind geweitet. Dixon hat ihn.
»Ich will, dass du mir in die Augen siehst« – Ricky schaut weg – »nein, ich will, dass du mir in die Augen siehst, Ricky, und mir sagst, ob du irgendetwas über das Verschwinden von Jeremy Guillory weißt.«
Ein Schauer rieselt über Rickys Schultern. Wie das Zittern, das durch einen Körper geht, der den Kampf aufgibt.
Dann, plötzlich: »Ich war es.« Ricky atmet aus. »Ich hab’s getan, ich hab’s getan, ich weiß nicht, warum, aber ich hab’s getan.« Er verbirgt das Gesicht in den Händen. Einfach so. So einfach. Drei Tage, und dann ist es plötzlich vorbei. Schluss.
»Wo ist die Leiche?«, fragt Dixon.
»Im Schrank. In meinem Schlafzimmer.«
Ohne ein weiteres Wort dreht sich Dixon nach vorn und steigt aus dem Wagen. Steigt aus und verriegelt die Tür hinter sich.
Ricky, der gerade einen Mord gestanden hat, bleibt allein im Auto zurück.
Woran denkt er? In jener Nacht, in der Nacht nach dem Mord an Jeremy, ging Ricky alleine im Dunkeln hinauf in sein Schlafzimmer. Nachdem all die Eltern ihre Kinder abgeholt hatten und mit ihnen nach Hause gegangen waren, und nachdem Pearl ihm gesagt hatte, er solle besser die Stadt verlassen, und ihr Gesicht abgewandt hatte, als könne sie es nicht ertragen, ihn anzusehen, und nachdem sie sich neben ihrem Ehemann auf der Matratze im Wohnzimmer schlafen gelegt hatte. June und Joey schliefen gegenüber. Das Haus war still. Ricky saß auf dem Bett und lauschte der Stille.
Es war das erste Mal seit Stunden, dass er alleine war, das erste Mal, seit Jeremy am Nachmittag an der Tür geklingelt hatte. Er konnte nicht schlafen – er war viel zu aufgeregt –, und er dachte die ganze Zeit an Jeremy. Dachte daran, dass seine Augen offen gewesen waren, als Ricky ihn gepackt hatte, und dass sie sich wie von selbst geschlossen hatten. Er wusste, dass es nicht sein konnte, aber wie er da in seinem Schlafzimmer saß und wusste, dass der Junge in dem Schrank war, hatte er das Gefühl, ihn atmen zu hören. Er bildete sich ein, dass sich diese Augen wieder öffneten. Jemand beobachtete ihn.
Hinter seinem Schlafzimmer gab es eine Treppe, sieben Meter lang, die direkt in den Wald führte und sich angeboten hätte, wenn Ricky die Leiche hätte loswerden wollen. Stattdessen schlich Ricky mitten in der Nacht hinunter in die Küche und nahm eine Rolle Alufolie. Er bedeckte die beiden Fenster seines Schlafzimmers mit Folie und klebte sie fest, sodass kein Licht mehr hereinfallen oder hinausdringen konnte.
Er hätte nicht sagen können, wer ihn nicht beobachten durfte und warum es so wichtig war, dass diese Fenster nicht mehr da waren. Er wusste nur, dass er eine kleinere Welt brauchte, eng um ihn herum, verschlossen.
Dieses Gefühl muss Ricky jetzt wieder haben, im Polizeiauto, wo die klare, helle Wintersonne durch die Scheiben scheint und das Wageninnere aufheizt. Wenn nur die Welt so klein bleiben könnte, nach außen abgeriegelt. Er hüllt sich in das Gefühl, eine Zeit lang, er weiß nicht, wie lange.
Bis Dixon zurückkommt und sagt: »Wir fahren zum Haus.«
Tagelang war die Straße voll mit Menschen, Hunden, Polizeikräften und Schleppern für die Suchboote. Aber als Dixon und Lucky jetzt mit dem Streifenwagen vorfahren, ist die Straße verlassen. Ricky sitzt, noch immer mit gesenktem Kopf, in Handschellen auf der Rückbank.
»Das ist das Haus«, sagt Lucky. Dixon hält sich zurück. Nun bleibt es doch weiterhin Luckys Fall. »Der Junge ist da drin«, sagt Lucky. Es ist keine Frage, aber er sieht Ricky trotzdem dabei an.
Ricky hebt fast unmerklich den Kopf und nickt.
»Also schön«, sagt Lucky. »Gehen wir.«
Lucky ruft keinen Krankenwagen. Er beeilt sich nicht. Später wird er sich diesen Augenblick im Zeugenstand vergegenwärtigen und den Geschworenen sagen, dass er sich natürlich nicht beeilt hat, weil er ja wusste, dass der Junge tot war. Zweimal wird er das wiederholen, wie um seine Entscheidung vor sich selbst zu rechtfertigen. Es ist eigenartig, dass ihn gerade dieser Moment quält, dass er gerade darauf zurückkommt. Es hätte schließlich nichts geändert, wenn er sich beeilt hätte. Lucky hätte den Notarzt rufen oder sofort ins Haus rennen können, ja, er hätte sogar den Jagdausflug am Vortag sein lassen können – es hätte keine Rolle gespielt. Jeremy war tot. Eigenartig, an welchen Details die Gedanken manchmal hängen bleiben. Eigenartig, an welchen Stellen sie uns suggerieren, es würde irgendetwas ändern.
Lucky steigt aus dem Wagen.
Der Deputy, der mit der Videokamera auftaucht, hat Pickel im Gesicht, so jung ist er. Oder zumindest stelle ich ihn mir so vor, während ich das Transkript lese. In den nächsten paar Stunden wird dieser Mann alles, was gefilmt wird, von der Kameralinse umrahmt sehen. Er ist die einzige Person, die auf dem Band nicht zu hören ist, die nichts sagt, nicht reagiert, sondern nur aufzeichnet. Er bleibt in dem Material ein Unbekannter, aber überlegen wir, was er alles sieht. Womit er konfrontiert wird. Ich stelle mir vor, dass diese Situation neu für ihn ist; stelle mir vor, dass seine Augen sich weiten. Ich sehe die kleine Wunde in der Haut, wo er sich beim Rasieren geschnitten hat, sehe seinen dürren Hals.
Dixon taxiert ihn und schüttelt den Kopf. Er und die Polizeifotografen sind bereits oben im Schlafzimmer gewesen und haben Bilder vom Tatort gemacht. Schön und gut, dass die Polizeidienststelle begonnen hat, mit Videoaufnahmen zu arbeiten, aber sie betrachten es eher als niedere Aufgabe, die man auf die Neulinge abschiebt.
»Bereit?«, fragt Dixon. Ich sehe ihn Latexhandschuhe überstreifen und eine durchsichtige Tüte mit der Aufschrift »Beweismaterial« entfalten. Er kann nur hoffen, dass der Junge hier schon mal eine Leiche gesehen hat. Das fehlt ihnen gerade noch, dass der Kameramann sich übergeben muss.
»Ja«, sagt der Junge. Er klingt nicht so, als ob er wirklich bereit dafür ist.
»Ich hole jetzt den Verdächtigen«, sagt Lucky, und seine Worte sind nun, da sie gleich aufgenommen werden sollen, viel förmlicher.
Er kommt mit Ricky zurück, der in Handschellen neben ihm herschlurft und nicht aufblicken will. Ehe er über die Türschwelle tritt, bleibt er abrupt stehen.
»Aufnahme an«, sagt Lucky.
Die Aufnahme läuft.
»Ich möchte, dass Sie jetzt …«, setzt Lucky an, dann hält er inne. »Was ich jetzt von Ihnen will, Jeremy, ist …«
(Dieser kleine Versprecher, die Tatsache, dass er Ricky mit dem Namen seines Opfers anspricht, ist das einzige Anzeichen dafür, dass Lucky nervös ist. Der einzige Anhaltspunkt, wie wichtig dieser Augenblick für ihn ist. Später steht an dieser Stelle im Transkript der Vermerk »[sic]«.)
»Der Kameramann wird Ihnen ins Haus folgen, und ich möchte, dass Sie mich zu dem Zimmer führen, wo es passiert ist, und ich will, dass Sie ihm den Raum zeigen und nichts anfassen, okay? Ich weiß, dass es hier drin Waffen gibt, und wie gesagt, ich will, dass Sie nichts anfassen.«
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