«Es genügt. Du kannst jetzt aufhören.»
Abrupt hielt sie inne. Sie blieb auf den Knien. Senkte den Kopf, schloss die Augen und versuchte vergeblich, ihren Vergewaltiger aus ihrer Welt zu verbannen. Seine Stimme drang durch die unsichtbare Mauer, die sie um sich zu errichteten versuchte.
«Ich will anerkennen», sagte er, «dass du nur für deinen kleinen Bruder, diesen Tunichtgut, zur Diebin geworden bist, und ich bin, unter gewissen Bedingungen, bereit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.»
Erschreckt hob sie den Kopf.
«Erstens musst du über das, was heute zwischen dir und mir geschehen ist, schweigen. Zweitens», fuhr er fort, «wirst du mir versprechen, mich nie mehr zu bestehlen. In diesem Fall darfst du bis zum Ende dieses Jahres auf dem Auenhof bleiben. Dann wirst du eine neue Stelle suchen müssen. Denn eine wie dich möchte ich meiner künftigen Frau als Magd nicht zumuten. Hast du mich verstanden?»
Esther hatte sich inzwischen hochgerappelt und starrte den Vetter, der, die Daumen in den Ärmellöchern seiner Weste, drohend vor ihr stand, aus verquollenen Augen verständnislos an.
«Hast du das begriffen, Mädchen, oder soll ich dafür sorgen, dass du ins Gefängnis kommst?», herrschte er sie an.
«Nein», flüsterte sie entsetzt. «Ich werde mich an alles halten. Ich verspreche es.»
«Siehst du, ich wusste, dass wir uns verstehen», meinte er. «Und nun pack dich fort!»
In ihrem Zimmer warf sich Esther aufs Bett. Sie barg ihr Gesicht in der rechten Ellenbeuge. Ihre Gedanken kreisten endlos um das Wort «geschändet», das sich mit den Schmerzen in ihrem Unterleib zur Gewissheit verband, sie sei für immer beschmutzt, sei nicht mehr wert als ein Stück Vieh, über das der Vetter verfügen konnte.
Nach einer halben Ewigkeit hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde und jemand ihre Kammer betrat. Sie verkrampfte sich. War er zurückgekommen? Wollte er seine böse Lust erneut an ihr stillen? Erleichtert realisierte sie, dass es die alte Lena war, die an ihrem Bettrand stand und mit ihren schwieligen Händen ihren Rücken streichelte.
Zwei Stunden zuvor hatte die Grossmagd aus dem Küchenfenster beobachtet, wie der Meister Esther, die sich verzweifelt gegen seinen harten Griff zur Wehr setzte, hinter sich her über den Hof ins Wohnhaus gezogen hatte. Als sie hörte, dass er sie hinauf in sein Zimmer schaffte, war sie leise die Treppe hochgestiegen. Sie hatte nicht alles verstanden, was hinter der geschlossenen Tür gesprochen wurde, aber sehr wohl geahnt, was Viktor drinnen mit der jungen Frau anstellte.
Lena selber war vor einem halben Jahrhundert als Dreizehnjährige von ihren Eltern auf den Auenhof verdingt worden. Zwei Jahre später hatte sich der alte Diepoldswiler, Esthers Grossvater, zum ersten Mal an ihr vergriffen. Er hatte sie immer wieder missbraucht. Schliesslich war sie schwanger geworden. Die Meisterin hatte nicht danach gefragt, wer der Vater des Jungen war, den sie auf dem Hof zur Welt bringen durfte. Nach der Geburt wurde das Kind vom Waisenvogt abgeholt. Ein Ehepaar aus Bern wolle es adoptieren, hatte man ihr gesagt. Er werde es dort gut haben, die Leute seien reich. Sie hatte ihren Sohn nie wiedergesehen. Falls er noch lebte, war er inzwischen achtundvierzig Jahre alt, ein Mann.
Im Übrigen hatte sie Glück gehabt. Da die Meisterin fast gleichzeitig Mutter eines Mädchens geworden war, das sie selbst nicht stillen konnte, behielt man Lena auf dem Hof, damit sie als Amme das Kind mit jener Milch ernährte, die für ihren Jungen bestimmt gewesen wäre.
Ihr Schicksal war nicht ungewöhnlich. Weder damals noch heute. Jetzt hatte es eben Esther getroffen. Die Dinge wiederholten sich, würden sich wohl nie ändern. Wenn eine Magd jung und hübsch war und niemanden hatte, der sich um sie kümmerte, so galt sie für viele Bauern im Tal als Freiwild.
Lena war wieder in die Küche hinuntergegangen. Nein, sie hatte nicht eingegriffen. Wie auch? Der junge Diepoldswiler hätte sie vom Hof gejagt und sie mit ihren dreiundsechzig Jahren dem Elend des Strassenbettels preisgegeben.
Später, als er endlich in der Stube erschien und am grossen Tisch Platz nahm, hatte sie ihm die Mahlzeit aufgetragen, die er nach einem kurzen Tischgebet schweigend in sich hineinschaufelte. Als er fertig war, hatte er seinen Hut genommen und erklärt, er besuche seine Braut.
Sie hatte ihm nachgeschaut, als er über den Hof schritt. Er war ein stattliches Mannsbild, gross und breitschultrig, mit einem Hang zur Korpulenz. Auch wenn er nur der Pächter seines Vaters war, schien es Lena, als sei Viktor um Zentimeter gewachsen, seit er auf dem Auenhof das Sagen hatte.
Lena setzte sich auf Esthers Bett. «Er hat dir Gewalt angetan, nicht wahr?», sagte sie leise, und als sie spürte, wie sich die junge Frau versteifte: «Und er hat dir verboten, darüber zu sprechen.»
«Es tut so weh», wimmerte Esther, die sich nicht umdrehte.
«Ich habe dir etwas mitgebracht, das deine Schmerzen lindert.» Lena kramte einen Tiegel aus ihrer Schürze. «Es ist eine Kamillensalbe. Trag sie auf die wunde Stelle auf, sie wird sie heilen.»
«Nichts wird mich heilen», flüsterte Esther, «nichts wird wieder gut werden. Nie mehr.»
Noch immer streichelte Lena ihren Rücken. «Du wirst es überwinden, glaub mir.»
«Was weisst du davon?», stiess Esther verzweifelt hervor. «Ich bin gezeichnet fürs Leben.»
«Frauenschicksal», sagte Lena. «Ich weiss von diesen Dingen mehr, als du ahnst. Du bist nicht die Erste, der man Gewalt angetan hat, und du wirst nicht die Letzte sein. Solange es der Meister ist, der sich an einer Jungmagd vergreift, wird im Tal kein Hahn danach krähen. Dein Vater, Gott hab ihn selig, der dich vor ihm hätte schützen können, liegt auf dem Gottesacker. Du tust gut daran, die ganze Sache tief in deinem Herzen zu begraben und weiterzuleben wie bisher.»
«Das kann ich nicht!» Esther setzte sich auf und schaute Lena verzweifelt an.
«Glaub mir, du kannst es. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig.»
In den folgenden Tagen machte sich Esther in der Küche und im Haushalt nützlich, sie pflegte den Pflanzgarten und besorgte das Kleinvieh, und wenn man sie brauchte, half sie bei der Feldarbeit. Aber nichts war mehr wie bisher. Ihre Fröhlichkeit und Zuversicht waren dahin. Ebenso wie die Drohung des Vetters, sie allenfalls als Diebin der Polizei zu übergeben, verstörte sie die Erkenntnis der eigenen Versehrbarkeit. Auch litt sie unter der Vorstellung, den Auenhof, wo sie aufgewachsen war, in ein paar Monaten verlassen zu müssen. Die Zukunft türmte sich wie eine dunkle Wolkenwand vor ihr auf.
Viktor erwähnte mit keinem Wort, was geschehen war. Er redete überhaupt kaum mit ihr, und wenn doch, so sprach er die Base nicht mehr mit ihrem Namen an. Sie war für ihn nur noch «das Mädchen». Sie nahm es ohne Widerspruch hin. Von Simon hatte sie gehört, dass man ihn bei den Reists «Bub» nannte. Das Mädchen und der Bub. Ohne dass sie es in Worte hätte fassen können, begriff Esther, dass sie als Geschändete verdingt, zum Ding entwürdigt worden war. Genau gleich wie Simon.
Am schwersten zu ertragen waren die Mahlzeiten. Wenn der Vetter am Morgen vor dem Frühstück mit bedeutungsschwerer Stimme einen Text aus der Bibel vorlas, starrte sie vor sich hin. Wenn beim anschliessenden Gebet die anderen die Hände falteten, den Kopf senkten und die Augen schlossen, beobachtete sie ihn verstohlen und voller Abscheu. Durch ihn hasste sie jenen Gott, dessen Segen er Tag für Tag auf den Auenhof herabflehte. Später beim Essen stocherte sie lustlos in ihrem Teller herum, gab, wenn man sie etwas fragte, nur einsilbig Antwort und war erleichtert, wenn sie wieder an ihre Arbeit gehen konnte.
Den Ekel, den der Vetter bei ihr auslöste, empfand sie auch vor Baschi und Dölf, den beiden Knechten. Sie hielt sich von ihnen fern und wich ihnen wenn immer möglich aus. Nur mit Lena sprach sie noch. Allerdings nur über alltägliche Dinge. Es war ihr unmöglich, über die Geschehnisse von Pfingsten zu reden.
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