Er hatte ihn stets von ganzem Herzen gehasst, und hasste ihn heute noch, obgleich er längst nicht mehr zur Schule zu gehen hatte. Er konnte es kaum in Worte fassen, so sehr hatte er ihn verabscheut, diesen Septemberanfang, mitsamt seinem, gemeinsam mit den Urlaubern zurückgekehrten Ernst des Lebens , für ihn grausam verkörpert durch die mit Schultaschen wie Tüten schwer bepackten, dem Bus hinterherhetzenden Kinder, den vordem autoleeren, höchstenfalls von einem einsamen Purzelgesträuch gequerten, nun wieder bis an den Rand verstopften Straßen, dem muffigen Geruch erwärmten Staubes, der den wieder in Betrieb genommenen Heizkörpern entströmte, und allem voran seinem, wie es so schön heißt: lebhaft auffrischenden Ostwind, der auf den Tag genau – man konnte seine Garderobe danach ausrichten – pünktlich mit dem ersten Schultag kalt schneidend durch die Straßen pfiff und die noch nicht mal welken Blätter von den Bäumen fegte. Wie eine Ohrfeige war ihm dieser beschissene, lebhaft auffrischende Hurendrecksostwind vorgekommen, wie eine mit der flachen Hand zügig ausgeführte, schmerzhafte Korrekturmaßnahme zur erniedrigenden Erinnerung daran, dass nun alles wieder in die gewohnten Gänge zu kommen hatte.
Er erinnerte sich an ein ihm zu dieser Zeit top-exquisit erschienenes Hawaiihemd, dass er sich in der zweiten Augustwoche des Jahres 1981 angeschafft hatte, und auf dessen Zurschaustellung vor wiederversammelter Schulkameradschaft er sich an jedem einzelnen Tag der noch verbleibenden Ferienzeit gefreut hatte. Als es endlich so weit und der erste Schultag gekommen war, hatte die Temperatur fristgerecht um fünfundzwanzig Grad abgekühlt, es regnete in Strömen, munter aufbrandende Windböen stülpten die zum Zerreißen gespannten Schirme scharenweise schlechtgelaunt durch die Düsternis hastender Passanten der Breite nach um, und das kurzärmelige Hawaiihemd war aufgrund seines luftdurchlässigen Gewebes, vor allem aber wegen seines dem finsteren Weltuntergangswetter diametral entgegengesetzten Palmenmusters so fehl am Platze wie ein Bunte-Luftballons-zu-lustigen-Hunden-verknotender-Clown an einem bis zum Rand mit Seuchenopfern angefüllten Massengrab. Er trug sie dennoch, seine tropische Trophäe, wenn er auch den ganzen Tag über fortwährend mit den Zähnen zu klappern sowie sich fröstelnd die gänsebehäuteten Arme zu reiben hatte.
Am Ende des gedanklichen Exkurses in die Vergangenheit angelangt, verband er diesen mit dem Gegenwärtigen zur quintessenziellen Erkenntnis: Neben der Abschaffung der Helmpflicht zugunsten der staatlich verordneten Plexiglasniesschutzkugel hatte die Seuche noch einen weiteren, nicht von der Hand zu weisenden Vorteil mit sich gebracht, kam sie doch einer Zeitreise in jene Tage gleich, als die Welt, allem voran die hochsommerliche Stadt Wien, sich neben totalem Stillstand noch durch endlose Ereignislosigkeit, infinite Fadesse und unaufhörlichen Ennui ausgezeichnet hatte. Und diese für immer verloren geglaubte Stimmung der Stagnation war nun, wenn auch von pandemischen Zwängen begünstigt, zumindest ansatzweise wiedergekehrt. Wenn es nach ihm ginge, könnte es ewig so weitergehen.
Von seinen Überlegungen zur Gänze in Beschlag genommen, hatte der Moddetektiv, ohne es zu bemerken, einen Zwischenstopp bei der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig eingelegt und einen Sechskilosack Royal Canin Fibre Response auf den Gepäcksträger des Rollers gewuchtet, war anschließend zu einem auf dem Weg liegenden Spar-Gourmand weitergefahren, in welchem er für den Inspector und seine Mrs. all jene Köstlichkeiten erstand, die ihm das wuschellockige, weit über einundsiebzig Fälle gelöst habende, sizilianisch eingewanderte Schmitzgesicht am Vortag per telefonischer Anweisung einem langwierigen Überredungszeremoniell folgend (»… danke, Moddetektiv, aber uns fehlt es an nichts, wir sind ja schon alt und essen kaum noch, schon gar nicht, seit unsere Enkelkinder nicht mehr zu Besuch kommen dürfen … was sagen Sie? … Wir haben gar keine Enkelkinder? Also jetzt, wo Sie’s sagen, also wo Sie recht haben, haben Sie recht, manchmal frag ich mich, wo ich nur wieder mit meinen Gedanken bin … Wie? Klopapier? Du liebe Güte, ich werd noch mal meinen Kopf vergessen, an Klopapier hab ich ja schon bei der letzten Bestellung zu denken vergessen, ich weiß tatsächlich nicht, wie lange ich noch den Trenchcoat dazu … ach ja, und wenn ich Sie schon dranhabe: Ein paar Kartonagen Cannelloni alla Mama Alfredo wären auch nicht falsch …«) mit knorriger Stimme zu übermitteln bereit gewesen war und hatte schließlich zügig eines der zahlreichen anderen Enden der Stadt erreicht, die GS zum Stillstand gebracht, und war, weiterhin seinen sentimentalen Überlegungen nachhängend, vor dem kleinen Einfamilienhäuschen der Krambambos abgestiegen. Erst als er das freundliche Ding-Dong der Türglocke vernahm – auch sie musste er ganz in Gedanken versunken, ohne es auch nur im Geringsten zu registrieren, in völliger Selbstvergessenheit betätigt haben –, wurde ihm bewusst, was wir bereits längst wissen, nämlich dass er sich vor der muranoglasüberdachten Eingangstür des für italienische Einwanderer dritter Generation so typischen, da recht kitschigen, aber dessen ungeachtet umso liebevoller dekorierten Einfamilienhäuschens eingefunden hatte.
Und schon flog die Tür auf, und der Inspector stand, sich die schwarzlockige Wuschelbirne schuppig raufend, verschmitzt schmunzelnd und mit seinem ungläsernen Auge humorvoll zwinkernd (während dessen artifizieller Zwilling teilnahmslos an einen unbestimmten Punkt jenseits des Moddetektivs starrte), mit dem abgelutschten Stummel einer längst erloschenen Zigarre zwischen den Fingern im Pyjama und mit Hausschlappen an den Füßen vor ihm. Den für ihn ach so charakteristischen, legendären, von Fett-, Kaffee- und Fäkalienflecken völlig übersäten, einst beige gewesenen, mittlerweile in allen nur erdenklichen Gelb-, Braun- und Grautönen changierenden, in seiner ramponierten Ausgetragenheit an einen zerschlissenen Staubsaugersack erinnernden Trenchcoat hatte der Inspector sich entweder der Form halber oder des Moddetektivs zu Ehren eilig über die Schultern geworfen. Unter einem weiteren Zwinkern hob er die Hand zum Gruß hinter den Kopf und knusperte launig: »Na, wen haben wir denn da, den Moddetektiv, wenn mich nicht alles täuscht!« Trotz des durchaus amikalen Empfangs taumelte dieser jedoch wie vom Blitz getroffen mehrere Schritte rückwärts und schrie mit sich hysterisch überschlagender Stimme: »Krambambo! Sind Sie der Verblödung feister Fang?! Alte Leute wie Sie zählen zur Höchstrisikogruppe, Sie des Lebens Überdrüssiger!! Noch dazu, wenn sie einem Sich-seit-Tagen-entsetzlich-angeschlagen-Fühlenden, Starke-Kopf-und-Gliederschmerzen-Verspürenden, überdies wahrscheinlich hohes, wenn nicht gar sehr hohes Fieber Habenden, also Mit-neunundneunzigkommaneunprozentiger-Sicherheit-infiziert-Seienden-nichtsdestotrotz-keinerlei-Test-Bekommenden gegenübertreten – Sie von sämtlichen gütigen Gespenstern Entvölkerter! Gehen Sie sofort wieder rein und machen Sie die verdammte Tür vor sich zu, ehe ich mich vergesse!!!«
Der Inspector tat, wie ihm empfohlen, denn das Türzumachen konnte er gut. Auch wenn er sie für gewöhnlich gleich wieder aufmachte, um seinen unfrisierten Kopf durch den Spalt zu stecken, weil er nur noch eine kleine Frage hätte, ihm noch eine Kleinigkeit – nichts Besonderes, etwas, das nur ein paar winzige Minuten dauern werde, nachdem er dann auch gleich wieder weg wäre – eingefallen war. Doch das ließ er diesmal bleiben. Stattdessen raunte es gedämpft durch die nun verschlossene Haustür: »Verzeihen Sie, Moddetektiv, manchmal frag ich mich, wo ich nur mit meinen Gedanken bin, ich werd noch mal meinen Kopf wo vergessen, sagt Mrs. Krambambo immer …«
»Schon klar, Inspector … aber dass mir das nicht noch einmal vorkommt, verstanden?«, entgegnete der Moddetektiv scharf.
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