In einem Anfall von ungestümer Liebe und Verbundenheit hob er Christian zu sich empor und presste ihn innig an seine Brust. Doch dem Tier stand der Sinn nach anderem, und es entwand sich mithilfe geschickt angestellter Verrenkungen der Umklammerung. Es wollte wohl gefüttert werden.
Der Moddetektiv hievte sich vom Bett hoch und trottete Christian lahm hinterher, der, indes von gewaltiger Gier gepackt, schrille Schreie schrecklicher Schmacht ausstoßend, mit steil aufgerichtetem Schweif eilig vorauslief, um hin und wieder stehen zu bleiben und hinter sich zu blicken, ganz so, als müsse er sich der nachwievorenen Verfolgung seines Futtergebers versichern, in dessen Schädel – die Wirkung des Purple Heart schien bereits nachzulassen – derweil jeder einzelne, noch so vorsichtig gesetzte Schritt auf dem langen Weg in die Küche in Form einer dumpf-stechenden Detonation seinen schmerzhaften Widerhall fand. Nachdem die Kochstube durchquert war, öffnete der Moddetektiv die Tür zur Speisekammer. Doch als er nach dem Sack Royal Canin Fibre Response griff, prallte er entsetzt zurück.
Oh Mod, der Beutel war leerer als die Nudelregale, nachdem die ersten Gerüchte über eine mögliche Ausgangsbeschränkung laut geworden waren. Mist, schon gestern war kaum noch Futter da gewesen, weshalb er in der Praxis der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig angerufen und einen Termin vereinbart hatte. Denn Royal Canin Fibre Response war kein gewöhnliches Allerweltsfutter, wie man es in den schäbigen Super- und Drogeriemärkten bekam, Royal Canin Fibre Response war ein speziell für gelegentlich unter Verstopfung leidende, schneeweiße, azurblauäugig schielende Siamkatzen in jahrelanger Forschung kreiertes High-End-Produkt, das keinesfalls in die falschen Schlünde, zum Beispiel in jene von an Haarwuchs erkrankten Nacktkatzen, gelangen durfte, weshalb diese Spezialnahrung nicht einmal in den besseren Tierboutiquen, sondern einzig und allein und nur auf telefonische Vorbestellung bei der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig erhältlich war.
Er konnte es drehen und wenden, so wie den leeren Futtersack, den er dem unverständig zu ihm hochblickenden Kater zur Verdeutlichung der aussichtslosen Situation in Begleitung eines bedauernden Achselzuckens vor die azurblauen Augen hielt: Ihm blieb nichts anderes, als sich außer Haus, hin zur Praxis der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig zu begeben. Und wenn er schon einmal dabei war, konnte er auch gleich im Supermarkt und hernach bei Inspector Krambambo und seiner Mrs. vorbeischauen. Denn wie alle – nun die Unberührbaren genannten – alten Leute waren die beiden aufgrund der Quarantänebestimmungen auf die Unterstützung der Jüngeren angewiesen und hatten sicher nichts gegen ein paar frische Fressalien einzuwenden.
Er verordnete sich eine Tasse Earl Grant, mit der er ein Purple Heart hinabspülte, dann begab er sich unter die Dusche und föhnte sich aus den längst façoniert gehörenden Haaren (wie bereits angedeutet, hatte sein Free Sir Rawland wie alle anderen, jedoch ohnehin nicht zur Diskussion stehenden Haarabschneider auch, seit Monaten geschlossen) die Karikatur eines gerade noch passablen French Cuts zusammen, nachdem er der Nasszelle mit sauber gescheuerten Zähnen und vom klebrigen Nachtschweiß befreit, einigermaßen erfrischt entstiegen war. Ein Schuss Eau de Parfum? Warum nicht. Kaum hatte er sich gekonnt Kinnpartie, Hals und Handgelenke benetzt, musste er mit beträchtlicher Bestürzung zur Kenntnis nehmen, dass der von ihm seit jeher verwendete, in einer zartgelben Essenz konzentrierte Duft, welchen er der in den mittleren fünfziger Jahren erstellten Kreation eines Pariser Modehauses zu verdanken hatte, im Begriff war zur Neige zu gehen. Woraus ein Dilemma beträchtlicher Dimension erwuchs, hatten doch auch Parfümerien seit Beginn des zweiten Ausnahmezustandes ihre Pforten ehern geschlossen zu halten, und wann und ob sie jemals wieder aufgesperrt würden, stand, wenn überhaupt, nicht einmal in den Sternen.
Nun aber flugs ab ins Schlafzimmer, dunkelblaue Levi’s-Jeans, weinrotes Perry, schwarz und hellgrau berombte, beige Burlingtons. Dann in den Vorraum zur Garderobe, weinrote Loafers, Bomberjacke, hmm, oder doch besser eine wohltemperierte Panade, sprich den Parka? Er war ja krank, hatte wahrscheinlich stark erhöhte Temperatur, geschätzte neununddreißig Grad Fieber, vielleicht sogar viel mehr, doch Fiebermessen kam für ihn nicht infrage, denn: Würde eine hyperthermische Bestandsaufnahme seinen Verdacht bestätigen, fühlte er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund des thermometrisch erbrachten Nachweises sogleich, als erhöhe sich seine Körpertemperatur augenblicklich um einige weitere Grade, woraufhin er zur Aktualisierung des Wertes um eine Folgemessung nicht herumkäme, derentwegen seine Körpertemperatur ob des abermals erbrachten Belegs seiner Vorahnung erneut umgehend anstüge, was unweigerlich eine weitere Temperaturbestimmung zur Folge hätte, die wiederum stark intensivierte Pyrexie nach sich zöge, und so weiter und sofort … ein exponentiell anwachsender Teufelskreis also, in den er sich keinesfalls begeben durfte und auch gar nicht konnte, da er gar kein Thermometer besaß. Nein, sämtliche der von ihm angestellten Überlegungen sprachen eindeutig für den Parka, selbst wenn ihm darob ein saumäßiges Safteln ins Haus stünde, was jedoch kaum, wenn nicht sogar gar nicht ins Gewicht fiele, da er es aufgrund seiner augenscheinlichen Maladie ja ohnehin tat – zwar noch nicht jetzt, doch schon sehr bald.
Und so nahm er mit dem jenem essenziellsten all seiner Kleidungsstücke geschuldeten Respekt den Original M52-Fishtail zärtlich vom Haken und befüllte dessen Inneres behutsam mit sich selbst. Glasigen Auges besah er sich im Spiegel: Ja, er sah ziemlich gut aus, wenn auch nicht ganz so ziemlich gut, wie wenn er kein Corona hätte.
Nichtsdestotrotz, einen Vorteil hatte die scheiß Seuche: Man musste zum Vespafahren keinen beschissenen Sturzhelm mehr tragen, da es ein Ding der Unmöglichkeit darstellte, diesen über die staatlich verordneten Plexiglasniesschutzkugeln zu stülpen, und so blieb zumindest die Frisur einigermaßen heil.
Die Straßen gähnten vor Leere, als der Moddetektiv auf seiner knusprig knisternden, voll verchromten Vespa 160 GS an verbarrikadierten Geschäften und geschlossenen Cafés vorbei durch die glühende Mittagshitze knatterte. Die ständig mit trommelfellzerfetzendem Sirenengeheul und grell blitzendem Blaulicht in selbstmörderischem Tempo an ihm vorbeibrausenden Rettungsfahrzeuge kaum mehr wahrnehmend, fühlte er sich in die Tage seiner frühen Jugend, wenn nicht gar Kindheit zurückversetzt, als er weder Vespafahrer noch Mod und noch längst nicht Detektiv gewesen war.
Auch damals hatte sich, insbesondere in den Monaten Juli und August, die von der sengenden Sonne auf großer Flamme geröstete Stadt vollkommen menschenleer gezeigt, und in den vor Glut verbogenen Straßen waren die abgeschlagenen Rollläden sämtlicher Geschäfte und Gasthäuser bis auf die Trottoirs herabgezogen gewesen. Wie auf den Gehsteigen der Asphalt, schmolz zwischen den Pflastersteinen der Teer, an den Schwellen der Stadtbahnschienen und auf den Sandhaufen stillgelegter Baustellen spross der Löwenzahn, und in ausgetrockneten Flussbetten keimte meterhoch das Mariengras. Und während die erbarmungslos auf die apathisch darniederliegende Stadt heruntersengende Sonne dermaleinst allerorts unbeachtet herumliegende Hundescheißehaufen zu karnickelkleinen, weißen Köteln bar jeglichen Geruchs ausbleichte, stand, vom selben wütenden Himmelsgestirn wachgeküsst, schwer und süßlich der stechende Gestank des rücksichtslos vor den Hauseingängen abgeschlagenen Urins in der vor Hitze flimmernden Luft.
Es hatte nichts zu tun gegeben, das es zu tun gegeben hätte in dieser absoluten Ödenei, alles und jeder war in der zähflüssigen Melasse von Lethargie und Langeweile versunken, zwei ganze Monate lang, und es war herrlich gewesen. Zumindest erschien es dem Moddetektiv aus heutiger Sicht so. Fiel er möglicherweise seiner eigenen, über die Jahre anwachsenden nostalgischen Verklärtheit zum Opfer? Mitnichten. Konnte es denn etwas Gediegeneres geben als ganze zwei Monate des planlosen Zeittotschlagens, des von tatenloser Trägheit bestimmten Sich-treiben-Lassens, des zum reglosen Verweilen Gezwungenseins in einer zum Stillstand gekommenen Welt? Und dies ganze, sich bis an den Rand der Unendlichkeit dehnende, acht Wochen lang – bis schließlich der September und mit ihm der Schulbeginn gekommen war.
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