An dem Abend regnete es. Radebusch wusste nicht, ob das Wetter vorteilhaft war oder nicht, und redete sich ein, der Regen erleichtere sein Vorhaben. Fritz startete früh und wählte zunächst die entgegengesetzte Richtung, um am Rande des Vorbergs über ein wenig benutztes Sträßchen zu fahren, das am Wegekreuz in die Landstraße mündet. Dort stieg er ab und achtete darauf, dass weder seine Schuhe noch die Reifen Profilspuren hinterließen. Er betrat sorgfältig nur Weideland und stieß sein Rad in eine Hecke. Er löste seinen Brotbeutel von der Querstange und vergewisserte sich, dass sein Inhalt vollständig war. Fritz hielt sich ungefähr eine Minute an der Hecke auf und suchte mit den Augen die Felder ab. Er sah niemanden und entschloss sich deshalb loszumarschieren. Er schritt ruhig mit gesenktem Kopf und schaute sich nicht um. Wer ihn beobachtete, sollte den Eindruck eines unbekümmerten Fußgängers gewinnen, der bei diesem Wetter dafür sorgte, schnell und ohne Umwege nach Hause zu kommen.
Nach einer halben Stunde erreichte er den Findling und verschwand hinter einer Aufschüttung von Kies. Dort schlug er sein Wasser ab und nutzte die Gelegenheit zur eingehenden Prüfung des Umfeldes. Dann bezog er Posten. Er verstaute seinen Beutel am Fuß des Findlings in einer Nische, wo der Regen nicht hineinreichte. Fritz war bis auf die Haut durchnässt. Er hatte keine Vorkehrung dagegen getroffen. Es war jetzt auch seine Sorge nicht. Er beeilte sich, die Bretter und die Straßensperre heranzuschleifen, wiederum nach langem Absuchen der dunklen Ränder an Hecken und Wegen. Er war noch uneins mit sich, ob er das Brett und ein paar Steine nehmen sollte, um die Fahrt des Autos zu unterbrechen, oder die Straßensperre, die dazu diente, die Ausfahrt zu sichern, wenn die schweren Laster die Rampe vom Grund des Kieslochs heraufkeuchten und auf dem letzten Stück zur Straße beschleunigten. Die Sperre hatte er früher schon zwei- oder dreimal gesehen. Jetzt wurde ihm klar, dass er sie nicht verwenden durfte, denn sie sah nach Absicht aus und verriet etwas von der Vertrautheit mit dem Ort, den die Polizei bald vermessen würde. Er zerrte die Bretter zum Findling, dazu ein paar Steine, und schickte sich ins Warten. Wenn Masrat bei diesem Wetter nicht kommt? Dann bist du nur das Risiko eines Schnupfens eingegangen. Radebusch machte seinen Rücken krumm und ließ den Regen an sich hinablaufen. Als er hochsah, stachen ihm Scheinwerferfinger entgegen. Er konnte sich nicht entschließen, die Steine und das Brett auf die Fahrbahn zu werfen. Untätig hockte er hinter dem Findling. Er hatte Glück. Es war nicht der Mercedes. Radebusch schleppte nun die Hindernisse auf die Straße. Komme, wer wolle.
Der Mercedes hielt. Er war bei dem Regenwetter langsam gefahren und brauchte nicht scharf zu bremsen, als hätte sein Fahrer hier und an keiner anderen Stelle halten wollen. Fritz verharrte regungslos hinter dem Findling. Er schaute nicht einmal hinüber. Er wollte selbst ganz lebloser Gegenstand sein, um nicht aufzufallen. Der Fahrer stieg aus, stemmte die Hände in die Hüfte, schaute sich um, fluchte ungezwungen, etwa in der Art „verdammte Scheiße, das auch noch“. Er schob seinen Stiefel an das Brett und wollte es von der Straße schleudern, aber es gelang ihm nur, das Brett zu drehen, so dass er sich bücken musste. Er warf es mit beiden Händen auf die Seite, wo Radebusch wartete, atemlos, mit gesenkten halboffenen Augen. Fritz blickte erst auf, als die Fahrertür klappte. Kaum war der Wagen angefahren, blieb er wieder stehen. Masrat stieg aus, verbeugte sich vor dem Kühler, so schien es, griff einen von Radebuschs Steinen und reckte sich. Da endlich schoss Radebusch. Masrat stand lange suchend vor dem Auto. Die Scheinwerfer beschienen seine Hosenbeine und Schuhe. Er konnte nichts in der Richtung erkennen, aus der geschossen wurde, darum fragte er, gewissermaßen sich selbst: „Ist da jemand?“ Fast bittend. Es muss sich ja aufklären lassen, ich bitte um Aufklärung des Irrtums! Fritz feuerte ein zweites Mal. Es riss den Fahrer herum. Er griff an die Schulter, stolperte auf die Tür zu, die in Fahrtrichtung offen stand, und tauchte in die Fahrerkabine. Das Glas der Beifahrertür platzte, Splitter schossen nach innen und trafen den Fahrer am Gesicht. Radebusch hatte ein drittes Mal gefeuert. Nun glaubte das Opfer an keine erfolgreiche Flucht mehr. Er griff mit seinem linken Arm über den Schoß und fingerte nach dem Revolver, der zwischen den Sitzen klemmte. Als Masrat die Waffe in der linken Hand hielt, aus dem Wagen stieg und sich aufrichtete, um seinem unsichtbaren Gegner mit der Pistole zu trotzen, fiel der letzte Schuss. Radebusch schnappte den Beutel, verließ die Schatten der Büsche und des Findlings und stolperte in Fahrtrichtung davon. Er wurde von den Scheinwerferkegeln erfasst, bevor er rechts abbiegen konnte.
„Dich kenne ich doch. Ich kenne Sie!“
Masrat erschöpfte sich in der Empörung über den Anschlag. Er schoss nicht zurück, er staunte nur. Jetzt war Radebusch außer Sicht. Er lief hinter der alten Kiesgrube auf Gegenkurs, in die Richtung, aus der das Auto gekommen war und wo sein Fahrrad stand. Als er sein Rad gefunden hatte, überzeugte er sich davon, dass nichts fehlte.
Am Sonntagmorgen beunruhigte Fritz Radebusch seine Frau damit, dass er sich nur in der Wohnung aufhielt und grübelte. Der Kerl ist verletzt, mehr nicht. Hat er nicht gerufen: Ich kenne Sie? Stimmt das vielleicht? Kennt er mich mit Namen oder nur vom Sehen? Seine Fresse war blutig. Es regnete. Ich habe mich lange genug im Dunkeln aufgehalten. Der konnte mich nicht erkennen. Als ich weglief, sah er noch lebendig aus. Warum hast du nicht weitergeschossen?
Es gab da nämlich den Augenblick, wo er gar nicht töten wollte, wo er Angst davor hatte, nicht vor Entdeckung und Strafe, sondern davor, ein Mörder zu werden. Nach dem vierten Schuss wollte er kein Mörder mehr sein. Radebusch irrte durch die Wohnung, war fahrig, nicht ansprechbar. Er wiederholte für sich: Den Daniel Spielstein hat der auf dem Gewissen, den alten Schön auch, Jabotinsky, die ganze Familie. Vielleicht sind sie tatsächlich nur in einem Arbeitslager, und das miese Schwein wäre wenigstens nicht an ihrem Tode schuld. Aber er hat sie aus ihren rechtmäßigen Lebensverhältnissen herausgerissen! Die Schramme, die ich ihm verpasst habe, lässt ihn künftig daran denken, dass er hier nicht der Herrgott ist, der Herr Masrat in seiner kackbraunen Uniform. Das durfte so nicht weitergehen! Aber mir geht es an den Kragen, wenn er wissen sollte, wer ich bin. Fallbeil oder Strick (Erschießungskommando wohl kaum). Vielleicht hat er nur geblöfft. Er kennt mich gar nicht. Meine Frau wäre auch dran. Und der Sohn käme in die Napola-Schule nach Bensberg! Ich hätte mit der Frau darüber sprechen müssen. Aber sie hat sich nicht einmal darüber gewundert, dass ich nass war bis auf die Knochen. Sie kennt das von mir. Sie weiß gar nichts, sie kann nichts verraten. Wo war Ihr Mann gestern? Wie immer mit dem Rad unterwegs, er fährt seine Runden bei jedem Wetter, auch im Winter.
Die Gerüchte von einem Mord kursierten schon am Sonntagnachmittag. Fritz Radebusch quälte sich mit der Frage, ob er etwas liegen gelassen hatte, ein Taschentuch beispielsweise. Nein, das nicht. Sogar die vier Hülsen, die mir der Auswerfer ins Gesicht gespuckt hatte, habe ich aufgehoben und in die Tasche gesteckt und alle vier am Brunnenhaus in den Waldsee geworfen, weit hinein, ich habe es platschen gehört. Am Montag brachten es die Zeitungen. Der Mercedes war in einen Graben gesteuert worden. Zur Erleichterung Radebuschs bezeichnete die Presse eine Stelle, die zwei Kilometer vom Tatort entfernt lag. Darauf würde die Polizei ihre Nachforschungen konzentrieren. Der Bursche hatte also noch seinen Wagen in Gang gesetzt, bevor er abkratzte! Es könnte wie ein Unfall aussehen - wenn die Schusswunden nicht wären.
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