Aber diesen Entitätscharakter hat nicht nur die Politik. Der Mensch und jeder andere biologische Organismus ist nur die kleinste Einheit einer Entität, sozusagen eine Zelle oder ein Organ von etwas Größerem. Die nächst größere Einheit bildet die Familie; das kann die biologische Familie sein, der man sich verbunden fühlt, oder die eigene Familie, die man selbst gründet, sei es nun eine monogame Kleinfamilie, ein Freundeskreis oder eine große polyamore Familie. Solange man sich miteinander verbunden und als Teil von einem größeren Ganzen fühlt, bildet man eine Art gemeinsamen Organismus, in dem jeder eine Aufgabe hat. Das Familienoberhaupt bildet – meist – den Kopf, andere bilden den Körper, die ausführenden Organe, das Herz... Allerdings sollte man diese Analogie nicht zu weit treiben, da jede Untereinheit prinzipiell polyfunktional ist und oft auch so agiert. Je umfangreicher eine solche Familie ist, je mehr sich die einzelnen Mitglieder mit dieser Familie identifizieren und je intensiver die Kommunikation ist, desto stärker und klarer bilden sich auch die beiden nicht-physischen Aspekte eines jeden Organismus aus: Bewusstsein und Seele, wobei man nicht den Fehler machen darf, Bewusstsein mit dem Denkwesen und seinen Vorgängen gleichzusetzen. Bewusstsein ist die vom Denken unabhängige Wahrnehmung seiner selbst, und der Charakter ist zum Teil Ausdruck des Bewusstseins. Ein weiterer – kleiner – Teil des Charakters kommt von der Interaktion mit der Umgebung, vom Versuch, sich selbst zu definieren und sich abzugrenzen, vom Verhalten der Gruppe und den Eigenheiten des Einzelnen, von den Beziehungen innerhalb der Gruppe, von Vorlieben, gemeinsamen Interessen... Den anderen, größeren Anteil an der Charakterbildung hat, neben dem Bewusstsein, die Seele. Diese ist die innere Natur eines Organismus, die Kraft, die ihn zusammenhält und ihm Individualität verleiht, sein wahres inneres Wesen, der Urgrund der Fähigkeit zu Liebe, Freude, Mut, Einheit und Zusammenarbeit.
Nach der Familie gibt es natürlich noch größere Wesenheiten: den Clan oder Stamm, das Viertel, den Ort, die Region, die Volksgruppe, das Land, die Nation. All diese Organisationsformen haben ein Bewusstsein und eine Seele, deren wir uns ganz vage bewusst sind und deren konstituierender Bestandteil wir in gewissem Rahmen auch sind. Je nachdem, wie sehr wir uns dessen bewusst sind und wie sehr wir uns mit diesem einzelnen Organismus identifizieren und vor allem auch in diesen einbringen, bildet sich auch dessen Charakter, dessen Bewusstsein und Seele aus, basierend zum Teil auch auf dessen Vergangenheit und Geschichte, zum Teil auf seiner Gegenwart und viel zu wenig auf seiner Zukunftsorientiertheit. Die Qualität, mit der sich die Mitglieder eines solchen Organismus in diesen einbringen, und die bewusste oder unbewusste Identifikation mit ihm bestimmen seinen Charakter, den Grad seiner Bewusstheit und Individualisierung und die Stärke und Formung seiner Seele.
Das Bewusstsein, vor allem, wenn es nicht sehr weit entwickelt ist und keinen oder nur einen schwachen Kontakt zu seiner Seele hat, neigt dazu, sich abzugrenzen und sich zu etwas Besonderem hochzustilisieren, denn in diesem Stadium ist es verletzlich und seiner selbst nicht sicher. Die Folge ist ein pubertäres Verhalten: ein Hervorheben der eigenen Werte, ein Kleinmachen von anderen und pöbeln und stänkern, und auf der Ebene der Nation entsteht daraus natürlich der Nationalismus mit seinen Auswüchsen.
Dieser ist in gewissem Rahmen durchaus nützlich, wird aber meist völlig überzogen ausgelebt. Nützlich ist er insofern, als er hilft, den Charakter, das Bewusstsein und die Seele einer Nation auszuformen und zu individualisieren – wenn man dabei in der Lage ist, die wahren Werte einer Nation herauszuarbeiten. Aber dies geschieht meist auf sehr harte, ausschließliche, egoistische und konservierende Weise. Das heißt, es wird einmal festgelegt, wie der Charakter zu sein hat, und dann wird alles dafür getan, dass es auch so bleibt oder wird. Doch dabei ist der Wert dieses Bildes eher zweitrangig. Und wenn dann noch versucht wird, dieses Bild mit Gewalt durchzusetzen, dann entsteht daraus blinder, dummer und ausgrenzender Nationalismus.
Aber wie jeder Organismus lebt auch eine Nation, sie verändert sich, sie entwickelt sich, sie reift. Und wie jeder Organismus hat auch jede Nation ihren ureigensten Platz im Gesamtbild, im Zusammenwirken aller Kräfte. Ein gesunder Nationalismus trachtet danach, die edelsten Seiten einer Nation oder Volksgruppe herauszuarbeiten und zu einem reifen, erwachsenen, weisen, wachstums- und wandlungsfähigen Individuum zu werden, statt ihr Dasein als bockiger Teenager zu zementieren. Eine solche gereifte Nation hat auch kein Bedürfnis nach Macht und Dominanz, sondern nimmt stolz und gleichzeitig bescheiden ihren Platz im Konzert der Nationen ein.
Ein solcher Nationalismus und die politische Globalisierung, also das Zusammenwachsen der Nationen zu einem größeren Organismus widersprechen sich dann auch nicht mehr. Wir haben kein Problem, uns mit unserer Familie zu identifizieren, mit dem Viertel oder dem Ort in dem wir leben, mit unserer Region, mit unserer Volksgruppe, mit unserem Land – alles gleichzeitig und ohne Loyalitätskonflikte. Unser Wachstum als globaler Organismus geht, nachdem die Länder einigermaßen erfolgreich, wenn auch in Details nicht ganz zufriedenstellend, etabliert wurden, auf die nächsten beiden Stufen zu: der Gestaltung kontinentaler Organismen, wie es in Nordamerika schon fast gelungen war und woran Europa gerade hart arbeitet, und natürlich dem Aufbau eines globalen, planetaren Organismus, der erst in dem Maße, in dem er zum Leben erweckt wird, in der Lage ist, das unendliche Elend, das weite Teile Terras, unserer Welt, im Griff hat, zu besiegen, denn es liegt in der Natur eines wirklichen Organismus, dafür zu sorgen, dass all seine Bestandteile wohlauf sind, denn geht es einem Teil nicht gut, dann leiden auch die anderen darunter. Das ist eine Erkenntnis und Sichtweise, die sich in der Politik und der Wirtschaft noch nicht durchgesetzt hat.
Die Globalisierung ist wichtig für die Gesundung unseres Planeten und für unsere Zukunft. Richtige Globalisierung bedeutet aber nicht, dass Joghurt hunderte oder tausende Kilometer weit transportiert wird, wenn es in unmittelbarer Umgebung in ausreichender Menge produziert wird. Sie bedeutet auch nicht, dass die Banken übereinander und über die Länder herfallen oder dass einzelne Länder ausgebeutet werden oder dass sich das fehlerhafte Konsumverhalten der jetzigen reichen Länder auf den ganzen Globus ausbreitet oder dass alle Länder politisch und kulturell gleichgeschaltet werden. Wirkliche Globalisierung bedeutet, dass alle gemeinsam auf einen ressourcenschonenden Lebensstil hinarbeiten, alle den gleichen Anspruch auf ein zumindest würdevolles Leben haben, alle in Liebe und Einklang miteinander leben und durch die Vielfalt der Nationen auch eine kulturelle Vielfalt und eine Vielfalt der Sichtweisen gewährleistet ist, die unser zukünftiges Leben und unsere Evolution anregen und sichern können.
Evolution benötigt Vielfalt und führt zu immer komplexeren und subtileren Organismen. Die Entwicklung einer globalen Kultur ist ein solches Ergebnis der Evolution des Menschen. Irgendwann in Jahrhunderten werden die vielen Kulturen natürlich zu einer einzigen verschmelzen, aber wer weiß, vielleicht ist es dann an der Zeit für den nächsten Schritt, ein galaktisches oder gar kosmisches Bewusstsein, sei es durch Gründung von Kolonien auf fernen Planeten oder durch Kontakt zu außerirdischem Leben. Es steht uns frei, wie wir auf der kosmischen Bühne dereinst auftreten wollen: als gewalttätige und zerstrittene Parias mit einem zerstörten Planeten oder als stolze Planetarnation Terra.
Die Nationen der Welt ähneln heute einer Gruppe von Bergsteigern, die durch ein Kletterseil miteinander verbunden sind.
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