Noch etwas war ihr inzwischen klargeworden. Zwar hatte sie keine Dankbarkeit von Günther erwartet – das, was sie getan hatte, war für sie selbstverständlich gewesen, sie hätte nicht anders gekonnt, auch wenn sie gewollt hätte –, aber doch ein freudiges Staunen darüber, daß sie ihn gefunden und ihm dadurch das Leben gerettet hatte. Statt dessen schien es ihm geradezu peinlich zu sein. Er hatte sie behandelt, als ob sie mit einem Makel behaftet wäre. In seiner Stimme hatte sogar ein gewisser Vorwurf geklungen, als sei es ihre Schuld, daß sie so war, wie sie war. Dabei hätte er besser als jeder andere Mensch wissen müssen, daß sie nichts dafür konnte. Wenigstens hätte er Mitgefühl zeigen können. Aber nicht einmal das hatte er getan.
„Ach was“, sagte sie zu sich selbst, „gib doch zu, daß du selber schuld bist! Du solltest längst wissen, daß niemand dich versteht oder auch nur versucht, es zu verstehen. Es war dein eigener Fehler, dir wieder einmal falsche Hoffnungen zu machen. Du mußt allein damit fertig werden. Du bist allein und wirst es bleiben.“
Marie hatte keine Lust, mit Paul Sanner auszugehen; sie versprach sich nichts davon. Aber sie wußte nicht, wie sie ihn abwimmeln konnte. Kopfschmerzen oder eine dringende Arbeit vorzuschützen schien ihr unredlich und billig. Also hoffte sie inständig, daß er sich nicht melden würde.
Aber als das Telefon dann nicht zur erwarteten Zeit klingelte, war sie überrascht über die leichte Enttäuschung, die sie empfand. Es fiel ihr plötzlich schwer, weiter an der Skizze ihres Bruders im Krankenbett zu arbeiten, die sie gerade begonnen hatte. Fast erleichtert legte sie den Zeichenblock aus der Hand, als das Telefon dann doch noch läutete, erhob sich, stellte ihre Stereoanlage ab, nahm den Hörer auf und meldete sich.
„Tut mir leid, Marie“, sagte er als erstes, „daß ich mich verspätet habe!“
„Macht ja nichts.“
„Jetzt werden Sie mich für einen ganz unzuverlässigen Menschen halten.“
„Überhaupt nicht.“
„Aber jetzt bin ich in zehn Minuten bei Ihnen!“
„Warten Sie!“ rief sie rasch. „Sagen Sie mir bitte, was ich anziehen soll?“
„Sie sind noch nicht angezogen?“ fragte er erstaunt.
„Natürlich bin ich das. Aber nicht zum Ausgehen.“
„Hatten Sie vergessen, daß wir verabredet sind?“
„Nein. Aber ich weiß doch nicht, was Sie Vorhaben.“
„Ich habe uns einen Tisch im ,B Eins‘ reservieren lassen.“
„Was ist das?“
„Ein Lokal. Sie werden schon sehen.“
„Muß ich mich dafür schön machen?“
„Darum möchte ich doch sehr bitten. Damit ich stolz auf Sie sein kann.“
Wider Willen mußte sie lächeln. „Ich werde tun, was in meinen Kräften steht.“
„Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, versicherte er, „ich werde warten, solange es nötig ist.“
Als sie dann, eine knappe Viertelstunde später, auf die Straße trat, sah sie tatsächlich blendend aus. Sie trug ein gutgeschnittenes Jackenkleid aus reiner Schurwolle, dessen helles Blau die Farbe ihrer Augen betonte, darunter eine weiße, mit Spitzen besetzte Bluse. Das starke Rot ihrer Lippen hatte sie mit einem hellen Stift gemildert, Wimpern und Augenbrauen getuscht und graublaue Lidschatten aufgelegt. Das blonde Haar bauschte sich um ihr klares Gesicht. Das Schönste an ihr aber war ihre porzellanglatte, schneeweiße Haut, völlig frei von Puder und Schminke.
Paul Sanner trat bei ihrem Anblick einen Schritt zurück. „Überwältigend!“ stieß er hervor.
Sie lächelte ihm zu, aber ihre Augen blieben ernst. „Ich freue mich, daß ich Ihnen gefalle.“
„Gefallen ist gar kein Ausdruck!“ Er nahm ihre Hand. „Nur eines stört mich …“
„Ja?“
„Sie sind ja einen ganzen Kopf größer als ich!“
„Stimmt nicht. Höchstens ein paar Zentimeter.“
„Trotzdem. Ziehen Sie mir zuliebe das nächste Mal keine hochhackigen Pumps an!“
„Soll ich die Schuhe wechseln?“
„Nein, nein. So wichtig ist das nun auch wieder nicht. Wir haben schon zuviel Zeit verloren.“ Er führte sie zu seinem Auto, das er schräg auf dem Bürgersteig geparkt hatte, und öffnete ihr die Tür. „Ich bin nur froh, daß ich die alte Karre heute früh innen saubergemacht habe.“
Als sie sich setzte, wobei sich ihr Rock ein wenig nach oben verschob – sie strich ihn rasch wieder hinunter –, stellte er fest, daß die hohen Absätze ihre langen Beine besonders gut zur Geltung brachten.
„Vielleicht sollte ich es mal mit Plateausohlen und hohen Absätzen versuchen“, sagte er, als er sich neben sie hinter das Steuer setzte.
„Mir zuliebe wirklich nicht. Mir sind flache Schuhe viel bequemer. Ich dachte nur, Sie hätten gewünscht …“
„Habe ich auch. Es war mein Fehler. Ist Ihnen eigentlich gar nicht aufgefallen, daß ich zu kurz geraten bin?“
Sie sah ihn von der Seite an. „Sind Sie ja gar nicht. Sie sind sehr gut proportioniert. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.“
„Es stört Sie also nicht, sich mit einem kleineren Mann sehen zu lassen?“
„Du lieber Himmel, nein! Als ob es darauf ankäme!“
Er war jetzt voll damit beschäftigt, sein Auto zurückzusetzen und in den fließenden Verkehr einzuscheren. Erst als er das geschafft hatte, fragte er: „Worauf kommt es denn an?“
„Auf den Charakter“, antwortete sie mit Bestimmtheit.
Ihn überfiel ein leichtes Unbehagen. „Ich muß Ihnen gestehen, daß der auch nicht besonders ist.“
„Was soll ich Ihnen darauf erwidern? Mir scheint, Sie fischen nach Komplimenten.“
„Das jedenfalls ist normalerweise nicht meine Art.“
Sie entschied, das Thema zu wechseln. „Sagen Sie, wo liegt das ,B Eins‘ eigentlich?“ fragte sie.
„Wie schon der Name sagt: Bismarckstraße eins.“
„Gott, bin ich dumm!“
„Man kommt nicht so leicht darauf, wenn man nicht schon dagewesen ist. Es ist gar nicht weit von hier, eine Nebenstraße der Clemensstraße. Passen Sie auf, in fünf Minuten sind wir an Ort und Stelle.“
„Ach, ich habe noch keinen Hunger.“
„Ich kenne euch Mädels. Ihr ernährt euch am liebsten nur von Joghurt, Knäckebrot und Äpfeln, und das alles nur wegen der schlanken Linie.“
„Damit hatte ich bisher noch nie Probleme.“
„Um so besser. Mit mir werden Sie tüchtig essen.“
„Ich bin zu allem bereit.“
„Sagen Sie, wie geht es Ihrem Bruder? Wir wollten heute eigentlich nicht darüber sprechen, aber ich möchte doch wissen …“
„Gut. Ich habe ihn besucht. Er ist auf dem Weg der Besserung.“
Obwohl sie bereitwillig Auskunft gegeben hatte, war etwas in ihrem Ton gewesen, das ihm riet, dieses Thema so bald nicht wieder anzuschneiden. Bisher war alles so glatt gegangen, viel leichter, als er erwartet hatte. Er mußte verhindern, daß sie ihre Abwehr gegen ihn wieder aufbaute. Also war es entschieden besser, es bei einem lockeren Geplänkel zu lassen.
„Da sind wir schon!“ verkündete er, fuhr den Wagen auf eine Parkinsel und half Marie beim Aussteigen.
Sie sah sich um. Die Straße wirkte gutbürgerlich, und auch das Restaurant lag in einem Haus, das ehemals eine private Villa gewesen sein mußte. Es hatte sogar einen winzigen Vorgarten, der von einem dunkelbraun gestrichenen Holzzaun umgeben war. „Putzig“, sagte sie.
Er nahm ihren Arm und führte sie über die Fahrbahn. „Es wird Ihnen bestimmt gefallen“, versicherte er ihr.
Nebeneinander stiegen sie zwei Stufen hinauf, dann ließ er ihren Arm los und öffnete ihr die Tür, die in einen kleinen Vorraum führte. Noch eine Tür, und sie standen im Restaurant. Vor ihnen tat sich eine gewaltige Bar auf, die sich in L-Form durch das ganze Lokal zog. Über ihr surrten zwei riesige Ventilatoren. Im Spiegel hinter ihr schimmerten alle nur denkbaren Flaschen und Gläser. Vor der Bar drängte sich junges, vergnügtes Publikum. Alle Hocker waren besetzt; einige Männer, die keinen Sitzplatz gefunden hatten, standen, das Glas in der Hand.
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