Marie wußte es nicht. Zurückhaltung war ihr seit langem zur zweiten Natur geworden. Dabei sehnte sie sich so sehr danach, sich einmal auszusprechen.
Am Tag darauf nahm sich Marie ein paar Stunden frei und fuhr mit ihrem roten Flitzer, den sie selten benutzte, denn sie ging lieber zu Fuß, zum ,Krankenhaus rechts der Isar‘ hinüber. Selbst mit dem Auto brauchte sie bei dem dichten Verkehr, der in der Stadt herrschte, nahezu eine halbe Stunde. Aber sie kam pünktlich zur Besuchszeit an und stellte ihren Wagen auf dem großen Parkplatz ab.
In der Eingangshalle, die fast wie eine Großstadtstraße wirkte, gab es Geschäfte, in denen alles mögliche verkauft wurde, vor allem Obst, Süßigkeiten, Tabakwaren, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Hier flanierten Patienten in Hausschuhen und Morgenmänteln, andere saßen allein oder mit Besuchern in der benachbarten Caféteria. Die lebhafte, wenig krankenhaushafte Stimmung wirkte beruhigend auf Marie.
Hauptwachtmeister Werner hatte ihr mitgeteilt, daß Günther Grabowsky inzwischen vernommen worden war und ihr auch seine Zimmernummer angegeben. Sie hatte für ihren Stiefbruder besonders saftige Mandarinen besorgt, die sie in einem Netz mit sich trug. Die großen Plantafeln halfen ihr, sich in dem riesigen Haus zurechtzufinden, und wenig später trat sie nach kurzem Anklopfen in das Zweibettzimmer, in dem Günther lag. Er wirkte immer noch sehr blaß, seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, außerdem war er unrasiert, aber er lächelte ihr tapfer entgegen. Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf beide Wangen. „Sei mir nicht böse, daß ich erst heute nach dir sehe. Die Polizei hatte es mir verboten.“
„Typisch!“
Sie warf einen prüfenden Blick auf das andere Bett, aber der Mann, der darin lag, beachtete sie gar nicht, sondern schien in die Lektüre eines Herrenmagazins vertieft. Dennoch senkte sie die Stimme zu einem Flüstern, als sie fragte: „Was hast du ihnen erzählt?“
„Über dich?“
„Ja, natürlich. Sie wollten mir nicht glauben, daß ich dich zufällig gefunden habe.“
„Kann ich mir vorstellen.“
Marie leerte ihr Netz auf Günthers Nachttisch und verstaute es in ihrer Handtasche.
„Mandarinen? Wunderbar!“ sagte er. Beim Lächeln entblößte er seine schiefstehenden Zähne, die ihm etwas Lausbübisches gaben, das gar nicht in seinem Charakter lag; als Junge hatte er sich mit Erfolg gegen das Tragen einer Zahnspange gewehrt. „Du darfst mir gleich eine schälen.“
„Du kannst also schon wieder essen?“
„Unbesorgt. Die Zeit der intravenösen Ernährung ist überstanden.“
„Gott sei Dank!“ Sie zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. „Hast du eine Serviette?“
„In der Schublade.“
Sie nahm sie heraus, breitete sie über ihren grauen Flanellrock, nahm eine der Mandarinen zur Hand und begann sie zu schälen. „Was ist nun wirklich passiert?“
„Weißt du das nicht?“
„Nein.“
„Aber wieso, bist du dann darauf gekommen, mich zu suchen?“
„Ich …“ Marie stockte. „Nein, erzähl du erst! Wie konnte dir das passieren?“
„Eigene Dummheit. Aber ich schwöre dir: Nie wieder mische ich mich in so was ein. Ich saß gemütlich in einer Wirtschaft – ich hatte bis in die Nacht hinein gearbeitet – als ein Kerl an einem Nebentisch Krach mit seiner Frau oder seiner Freundin, was auch immer, jedenfalls mit einem weiblichen Wesen anfing. Als sie das Lokal verließen, war er furchtbar aufgebracht und natürlich auch nicht mehr nüchtern. Ich zahlte und ging ihnen nach. Er watschte sie und stieß sie in diese Sackgasse hinein.“
„Stand das Tor denn offen?“
„Nein, aber es war auch nicht verschlossen. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen, und es schwang auf. Die Frau schrie.“
„Und da mußtest du den edlen Retter spielen?“ Marie hatte die Mandarine geschält, jetzt teilte sie sie und steckte ihm ein Stück zwischen die Lippen.
Er saugte genüßlich daran und nickte.
„Die Polizei dachte, du hättest was mit Drogen zu tun.“
Er schluckte. „Typisch! Die nehmen immer gleich das Schlimmste an.“
„Daß du dich getraut hast, den beiden nachzugehen!“
„Ich hatte den Eindruck, daß er ihr was antun wollte. Wie hätte ich mich gefühlt, wenn ich am nächsten Tag in der Zeitung hätte lesen müssen, sie wäre umgebracht worden? Besser doch so.“
Sie steckte ihm das nächste Stück, das sie bis jetzt in der Hand gehalten hatte, in den Mund. „Schlimm genug. Du hättest dabei draufgehen können.“
Als er es gegessen hatte, sagte er: „Ich war mir übrigens keiner Gefahr bewußt. Der Kerl war viel schmächtiger als ich. Wie konnte ich denn ahnen, daß er ein Messer ziehen würde? Ich Trottel habe mir eingebildet, ihn mit ein paar klugen Onkel-Doktor-Floskeln beruhigen zu können.“
„Mach dir nichts draus! Du bist schließlich kein Irrenarzt.“
Er sah dankbar zu ihr auf. „Ich habe mich tatsächlich wegen meines Versagens geschämt.“
Während sie so an seinem Krankenbett saß und ihn fütterte, fühlte sie die alte Zuneigung aus Kindertagen in sich aufwallen. „Du hast mehr getan, als man von dir erwarten konnte.“
„Nett von dir, das zu sagen.“
„Das sollte kein Kompliment sein, sondern meine ehrliche Meinung. War die Polizei nicht auch dieser Ansicht?“
„Die wollten mir nicht abnehmen, daß ich die Leute vorher überhaupt nicht gekannt habe.“
„Ja, ich weiß. Meine Schuld.“ Während des Gesprächs teilte Marie weiter Mandarinenschnitze aus, ja, sie schälte auch noch eine zweite.
„Wie, um Himmels willen, bist du dort hingekommen?“ wollte Günther wissen.
„Ich bin gelaufen.“
„Aber wieso?“
Marie warf einen Blick zum anderen Bett hinüber. „Kannst du dir das nicht denken?“
Günthers Gesicht verfinsterte sich. „Immer noch? Ich dachte, das wäre vorbei.“
„Ich kann nichts dafür!“ sagte sie heftig. „Und diesmal hat es dir ja wahrscheinlich das Leben gerettet. Also mach mir bitte keinen Vorwurf!“
„Das wollte ich nicht. Tut mir leid, wenn es so geklungen hat. Tatsächlich bin ich …“ Er suchte nach dem passenden Ausdruck. „… entsetzt.“
„Ich muß damit leben, nicht du.“
„Aber Vater meinte doch, es würde nach der Pubertät besser werden.“
„Das habe ich auch gehofft. Es war das erste Mal, seit ich …“ Sie unterbrach sich. „Du hast der Polizei gegenüber doch hoffentlich nichts durchblicken lassen?“
„Natürlich nicht. Glaubst du, ich will riskieren, für verrückt erklärt zu werden?“
„Konntest du eine Beschreibung des Täters geben?“
„Eine ziemlich gute sogar. Aber sie wollten mir nicht glauben. Zum Glück hat die Bedienung meine Version bestätigt. Daß ich an einem anderen Tisch gesessen habe, daß dieser Kerl und sein Mädchen sich gestritten haben und ich erst nach ihnen gegangen bin. Trotzdem sind sie skeptisch geblieben. Nach dem Motto: alles abgekartetes Spiel und so. Der Beamte, der mich verhört hat …“
„War es Hauptwachtmeister Werner?“ fiel sie ihm ins Wort.
„Ja, ich glaube schon. Ich habe nicht auf den Namen geachtet. Jedenfalls ist er überzeugt, daß ich den Täter kenne und daß seine Begleiterin dich nachträglich angerufen hat.“
„Rechnest du damit, daß der Bursche gefaßt wird?“
„Wohl kaum. Falls er nicht in der Verbrecherkartei steht. Die soll ich mir, wenn ich hier raus bin, noch durchsehen. Oder ich müßte ihm zufällig begegnen,“
„Würdest du die Polizei verständigen? Ich meine, wenn du ihn irgendwo sehen würdest?“
Er dachte nach. „Ich glaube nicht. Wahrscheinlich handelt es sich um ein armes Schwein. Nicht anzunehmen, daß er am laufenden Band Leute niedermetzelt.“
„Die Polizei wird dich sicher noch eine Weile im Auge behalten.“
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