Der letzte Punkt schließlich betrifft den Glauben. Die Kirche verliert ihren Anspruch auf Einmischung in sämtliche Bereiche des Lebens, indem sie ihre Glaubwürdigkeit verliert. Das Papsttum der Renaissance befindet sich auf einem moralischen Tiefpunkt: Entweder profilieren sich die Päpste als Kriegsherren oder als Familienväter. Sie leben wie Renaissancefürsten, haben teilweise mehrere Geliebte und größere Familien – das Wort «Nepotismus» datiert aus dieser Zeit, als die Päpste ihre unehelichen Söhne zu Neffen (nepoti) erklärten und ihnen manchmal bereits in jungen Jahren zu einträglichen Kardinalsernennungen verhalfen. Sie fördern die Künste, indem sie sich Kirchen, Statuen und Grabmäler von unvorstellbarem Luxus bauen lassen: Leonardo, Michelangelo und Raffaello sind Nutznießer dieser Verschwendungssucht.
Die Kassen, die entweder durch Kriegsführung, die Unsummen verschlingenden Kreuzzüge oder den aufwändigen Lebensunterhalt geplündert worden sind, können durch das Ablassgeschäft wieder gefüllt werden: Für eine entsprechende Summe kann man sich von der Schuld an allem und jedem freikaufen, ja sogar für einen geplanten Mord im Voraus die Schuld erlassen bekommen. «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt», weiß der Volksmund zu berichten, und redegewandte Priester ziehen durch die Länder und nehmen den Armen noch das letzte bisschen Geld ab, indem sie versprechen, ihnen – bei entsprechender Zahlung auch ihren Verwandten – das Fegefeuer zu ersparen und sie damit dem Paradies ein Stückchen näher zu bringen.
Ein deutscher Mönch namens Martinus hinterfragt die Ethik dieses Geschäfts. Mit 95 Thesen zur Säuberung und Reformierung der Kirche und ihrer fragwürdigen Repräsentanten protestiert er dagegen und sucht den Dialog mit Rom. Dort denkt man nicht daran, den lästigen jungen Mann aus dem Norden ernst zu nehmen – ein Kommunikationsfehler, der sich bitter rächen wird: Bruder Martinus gibt nämlich nicht auf, lässt sich nicht wegwünschen, übersetzt statt dessen die Bibel in eine für alle Deutschen verständliche Sprache und sorgt so dafür, dass «das Volk» sich zu einer Art religiöser Mündigkeit mausert. Als er 1546 stirbt, hat er mit großem persönlichem Einsatz eine neue Religion begründet, deren Name Programm ist: den Protestantismus – und ganz nebenbei die Grundlagen geschaffen für die deutsche Sprache, wie wir sie heute kennen …
Das also ist die Umgebung, in der Leonardo mit seinem Wissensdrang und seiner Experimentierlust agiert. Er kann praktisch die Welt neu erfinden oder entdecken und von einer Zukunft träumen, in der Undenkbares gedacht wird. «Die Menschen werden von den fernsten Ländern aus miteinander sprechen und antworten», ist nur eine seiner Voraussagen, die sich als richtig erweisen werden. Denn er hat es ja nicht nur beim Träumen belassen, sondern kräftig dafür gesorgt, dass diese Träume Wirklichkeit wurden.
Michael J. Gelb, der dem Genie Leonardo den Titel «Schutzheiliger aller unabhängigen Denker» verleiht, schreibt ihm sieben Prinzipien zu, aus denen sich die Grundzüge seiner Lebensgestaltung und seines Lebenswerks herauslesen lassen, sozusagen die «Leonardo-Unternehmenskultur». Sie könnten tatsächlich auch als Leitfaden für uns Heutige dienen. Um sie auf ihre Aktualität oder Zeitlosigkeit zu testen, stellen wir sie neben sieben moderne Denkinstrumente (hätte Leonardo gelacht ob der Vorstellung, dass man zum Denken Instrumente braucht, oder hätte sie ihn fasziniert?) solcher Denkgrößen wie Edward de Bono, Tony Buzan oder Frederic Vester. Diese Herren haben sich alle professionell mit Denken beschäftigt und eine hochwertige Ansammlung von thinking tools erarbeitet. Würde man diese tools benutzen, wäre unsere Zeit reicher an Kreativität, wirksamer in der Katastrophenbekämpfung oder -Verhinderung und effizienter in der Konfliktlösung.
Beginnen wir also mit dem Prinzip des Leonardo, das ihn mehr als alles andere geprägt hat: CURIOSITÀ, seine offenbar grenzenlose Neugier …
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