Es sind die berühmten Notizbücher Leonardos, die uns so viele wertvolle Details über die immense Bandbreite seiner Schaffenskraft wie auch über seinen Tagesablauf und seine Arbeitsdisziplin Aufschluss geben. Er hat darin fast alles aufgezeichnet – fast immer übrigens in Spiegelschrift! – und uns damit eine unschätzbare Quelle von Informationen über sein Leben und Schaffen geschenkt. So erfahren wir zum Beispiel, dass er 1479 anfängt, Maschinen zu bauen, 1480 für Lorenzo de Medici , genannt «II Magnifico», Hauptauftraggeber Verrochios , im Garten von S. Marco arbeitet und im selben Jahr Waffen, Kriegsmaschinen, Brennspiegel und eine Ölpresse entwirft oder 1481 einen Auftrag der Mönche von S. Danato in Scopeto für eine Altartafel zum Thema «Anbetung der Könige» annimmt. Bereits in diesem Jahr entstehen auch Studien zu Wasser und Hydraulik, Flug- und Tauchgeräten.
Leonardo wird am Hofe Lorenzos in einen Kreis von Philosophen, Mathematikern und Künstlern eingeführt. Es gibt sogar Hinweise, dass er für einige Zeit im Medici-Palast gewohnt haben soll. Er saugt Wissen, Ideen und Spekulationen auf wie ein Schwamm, und vielleicht liegen hier auch die Wurzeln seines Talents, Geschichten und Anekdoten zu erzählen.
Wir haben fast keine biographischen Angaben über Leonardo von seinen Zeitgenossen; die ersten Aufzeichnungen seines Lebens kommen von dem Mann, der unsere Basisquelle für die meisten Renaissancekünstler ist: von Giorgio Vasari, selbst Maler, Architekt, Geschäftsmann und Höfling. Ihm verdanken wir den Begriff Rinascimento, und er hat uns mit seinem Klassiker «Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten» 7 Einblick in die künstlerische Dynamik des 15. und 16. Jahrhunderts, eine der aufregendsten Epochen, gegeben; allerdings hat er das ungefähr dreißig Jahre nach Leonardos Tod getan. Also wissen wir das, was wir über Leonardo wissen, hauptsächlich aus zweiter Hand. Die ihm nachfolgenden Biographen stützen sich dann weitgehend auf Vasari als ihre Hauptquelle.
In Florenz lässt es sich gut leben, wenn jemand so gut aussieht wie Leonardo, exzellente Manieren hat, charmant ist und wohlgelitten am Hofe der Medici. Vasari überschlägt sich fast: «Leonardo da Vinci, dessen Schönheit nie genug gerühmt werden kann, dessen Grazie bei allem, was er tat, unermesslich schien und dessen Talent so groß und so geartet war, dass sich sein Geist allen schwierigen Dingen zuzuwenden und sie mit Leichtigkeit zu lösen vermochte.»
Kurz vor seinem 24. Geburtstag erfährt sein Leben eine Zäsur: Er wird wegen Sodomie angeklagt und ins Gefängnis geworfen. Vielleicht hat er sich mit den ersten eigenen Werken aus dem Vorjahr – einem Wandteppich für den König von Portugal sowie verschiedenen Gemälden – schon einen gewissen Ruf erworben, vielleicht ist es aber auch das Renommee des einflussreichen Vaters, das ihn rettet; jedenfalls wird er wegen Mangel an Beweisen freigesprochen und auf Bewährung aus der Haft entlassen. Er darf zwar weiterhin in der Werkstatt Verrochios arbeiten und bekommt in den nächsten Jahren sogar eine Reihe von eigenen Aufträgen, aber in dem vom Florentiner Stadtrat, der Signoria, angestrengten Verfahren liegt der Keim zu seinen Plänen, diese Stadt zu verlassen. Und das tut er dann auch: Der Dreißigjährige zieht nach Mailand, zwar entsandt von Lorenzo de’ Medici, aber von jetzt an in den Diensten von Ludovico Sforza , dem er das Bewerbungsschreiben aller Bewerbungsschreiben schickt. Darin bietet er u. a. folgende Dienste an:
Konstruktion sehr leichter, aber starker Brücken
Lösung des Wasserversorgungsproblems bei Belagerung
Wie zerstöre ich eine Zitadelle?
Konstruktion einer Kanone, die Steinchen wie Hagel ausspeit
Sicherheitsvorkehrungen für Schiffe, die in eine Seeschlacht geraten
Untertunnelung von Gebäuden
Überdachte Wagen, die man, mit Munition beladen, in die Reihe der Feinde schicken kann
Die Kriegsmaschinerie wird noch vervollständigt durch allerlei Geräte und Munitionen, von denen er schreibt, dass sie schöner und nützlicher geformt seien als alles, was bisher so in Gebrauch war. Und was würde er in Zeiten des Friedens tun können?
So gut wie jeder andere sei er, was die Architektur betrifft, und das im öffentlichen wie im privaten Bereich.
Wasser könne er von einem Ort zum anderen leiten.
Skulpturen in Marmor, Bronze oder Ton – was darf’s denn sein? – oder, wenn nicht Bildhauerei, dann könne er sagen, dass seine Malerei jeden Vergleich mit egal wem aushalten könne.
Schließlich werde er das Monumentalprojekt, das bronzene Pferd zur Glorie des Hauses Sforza, an die Hand nehmen und damit Ludovicos Vater ehren.
Nicht schlecht für eine Liste von Qualifikationen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in einem einzelnen Menschen, der noch nicht einmal die Hälfte seines Lebens erreicht hat! Vielleicht ist es der letzte Punkt gewesen, der Sforza veranlasst, Leonardo in Mailand aufzunehmen (Vasari allerdings glaubt, dass es der höfische Charme des Bewerbers war, zusammen mit seinen Talenten als Musikant und Festveranstalter, der als ausschlaggebender Faktor angesehen werden kann): Sforza ist geradezu besessen von der Kreation dieses Pferdes. Wäre es auch zu diesem neuen Auftragsverhältnis gekommen, wenn er gewusst hätte, dass sich Leonardo zwar für den Rest seines Lebens mit diesem Pferd beschäftigen, es aber nie vollenden wird?
Nun ist es nicht so, dass Leonardo untätig herumsitzt. «Unter anderem» kreiert er in seinem ersten Mailänder Aufenthalt, in den drei Jahren von 1495 bis 1498, eines der berühmtesten Fresken der Kunstgeschichte: das «Abendmahl», dessen Ruhm wohl in erster Linie auf der bis dahin nicht da gewesenen räumlichen Aufteilung beruht. Mit dem Auge des Künstlers wie mit dem des Wissenschaftlers arrangiert er die zwölf Apostel in vier Gruppen zu je drei Männern, mit Jesus in der Mitte, der – souverän in seiner Gefasstheit und Einsamkeit – kurz davor zu sein scheint, die berühmte Vorhersage zu machen: «Einer unter euch wird mich verraten.»
Interessant übrigens, dass Malen durchaus nicht Leonardos Lieblingsbeschäftigung ist; oft beschränkt er sich darauf, mit ein paar sicheren Pinselstrichen die Grundidee vorzugeben oder korrigierend einzugreifen, und beim Malen eines Bildes für Isabella d’Este heißt es, dass er «sehr ungeduldig mit dem Pinsel» gewesen sei. Es war durchaus normal in den großen Ateliers berühmter Künstler, dass Schüler einen guten Teil der Arbeit an großen Werken ausführten, unter den wachsamen Augen der Meister natürlich. Ebenso zeigt er in diesem Fall nur ein begrenztes Interesse an technischen Fragen, die für das Bestehen dieses Werkes überlebenswichtig sein sollten: Offenbar waren die Maßnahmen zur Erhaltung des Freskos ungenügend und haben seine langsame Zerstörung nicht verhindern können.
Wenn Leonardo nicht malt, intensive Recherchen zu Pferdekörpern macht oder den Hof mit seinem Charme bezaubert, beschäftigt er sich mit Studien der Anatomie, Astronomie, Botanik, Geographie oder Geologie. Der bedeutendste Auftrag jedoch ist und bleibt das Pferd («am 23. April 1490 fing ich dieses Buch an und begann das Pferd»), von dem Kunstkritiker sagen, wenn sie die Entwürfe sehen, dass es Teil der großartigsten Reiterstatue aller Zeiten geworden wäre. Wenn nicht die großartigste, so sicher doch die größte: Die Statue war auf fast acht Meter angelegt!
Es hat nicht sollen sein: Als er endlich ausreichend recherchiert hat und ans Umsetzen der Entwürfe gehen kann, kommt die versprochene Bronze nicht – es wären, nach Leonardos Berechnungen, ungefähr achtzig Tonnen geschmolzener Bronze nötig gewesen: Sforza braucht sie dringender für Kriegsmaterial, um die Franzosen aus seinem Territorium zu drängen. Das scheint ihnen allerdings wenig Eindruck gemacht zu haben: 1499 erobern sie trotzdem Mailand und schicken den Herzog ins Exil. Französische Bogenschützen zerstören das Modellpferd, indem sie es als Zielscheibe benutzen – und sein Schöpfer verliert aufs Mal Arbeitgeber und Wohnsitz. Er muss sich nach anderen Lebensunterhaltsmöglichkeiten umsehen – und aus der Distanz von fast zwei Jahrzehnten erscheint Florenz dann doch wieder sehr attraktiv: 1500 zieht es ihn dorthin zurück, wo gleich sein erstes Werk, Auftragswerk eines religiösen Ordens, obwohl nur als vorbereitende Zeichnung zu sehen, ein echter Publikumsmagnet wird. Das Bild wird nie fertig werden, dient aber als Vorlage für ein späteres, das im Louvre hängt: «Madonna mit Kind und der Heiligen Anna».
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