In den Zeiten vor Armani, Boss oder Calvin Klein, als sich der Mann von Welt seine Anzüge noch von einem Herrenschneider maßanfertigen ließ, wurde er, wenn der Schneider sehr gut war, öfter bewundernd gefragt: «Wo lassen Sie arbeiten?» Heute drängt sich in manchen internationalen Führungsgremien die Frage auf: «Wo lassen Sie denken?». Die eklatanten Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen der letzten Jahre lassen vermuten, dass Denken nicht zu den populärsten Aktiviäten in den so genannten Chefetagen gehört.
Noch immer betrachten die meisten Führungskräfte einen übervollen Terminkalender als Statussymbol. Er manifestiert ihrer Meinung nach, dass sie als Entscheidungsträger unentbehrlich sind, dass ohne sie «der Laden nicht läuft», dass sie, die Armen, einfach von Termin zu Termin hetzen müssen. Wie aber können sie entscheiden, ohne sich die nötige Zeit zum Denken zu nehmen? Wann gewähren sie sich Denkraum, um gestern Erlebtes zu reflektieren, in ihren heutigen Erfahrungsschatz einzuordnen und diese Aha-Erlebnisse in die Entscheide von morgen mit einzubeziehen?
Innovation: Neues denken wollen
Reflexion gehört zur Kategorie Nachdenken, einer unerlässlichen Voraussetzung für Entscheidungen, die die Zukunft betreffen. Vordenken ist ebenfalls etwas, was man von den BewohnerInnen der Führungsetagen erwarten darf. Schließlich verlangen sie ja Mitdenken von ihren MitarbeiterInnen. So erwartet zum Beispiel Heinrich von Pierer, der CEO von Siemens , einem der größten deutschen Industrieunternehmen, von den dort Arbeitenden «jeden Tag neue Ideen», wie es in einem Artikel heißt. Ziel dieser Forderung soll das sein, was alle Unternehmen und Organisationen heute dringender denn je brauchen: Innovation, das ersehnte Resultat kreativer Denkprozesse, das die Konkurrenten, blass vor Neid, auf den zweiten oder dritten Platz verweist, wenn auch oft nur für eine sehr kurze Zeit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden qualifiziert und befördert gemäß ihrer Fähigkeit, innovativ zu denken. Wie aber können Menschen kreativ bzw. innovativ denken und handeln, wenn die gelebte Unternehmenskultur ihnen keine Zeit dafür einräumt, sondern Schnelligkeit und messbare Performance belohnt?
Jedes Business beginnt mit einer Idee. Sie muss nicht originell sein, ist oft sogar die Kopie einer bestehenden Idee, die so lange bearbeitet wird, bis sie für die Kunden interessant wird. Wenn das Business jedoch einmal floriert, scheint man vergessen zu haben, dass es immer noch Ideen sind, die das Kapital vermehren. Neuen Ideen für Produkte, Dienstleistungen, Strategien oder nur schon administrative Abläufe begegnet man mit Misstrauen: Sobald es etwas zu verlieren gibt, ist Risikofreudigkeit, die ja Vorausetzung für Neuerungen ist, kaum noch ein Thema; lieber geht man auf Nummer Sicher, und das heißt meistens: fixiert sein auf Probleme, die man – auf Effizienz eingeschworen – standardmäßig angeht.
Dass sogar gestandene Unternehmer, die bereits ihre Innovationsfähigkeit unter Beweis gestellt hatten, mit ihren Ideen bei ihrem unmittelbaren Umfeld anecken können, beweist eine Geschichte aus dem anekdotisch reichen Umfeld Henry Fords:
1914 hatten Arbeiter in der Autoindustrie einen Tageslohn von $ 2,34 – bis zu dem Tag, da Henry Ford beschloss, ihnen mehr als das Doppelte, nämlich $5,00 zu zahlen. Ford hatte gute Gründe dafür, die nichts mit Philanthropie zu tun hatten. Aber sein Umfeld verstand diese Gründe nicht, bewarf ihn mit Kritik und beschimpfte ihn als «Sozialisten». Die USA sind voll von Geschichten, in denen eine oder ein zuerst Verspottete(r) am Ende ihre oder seine Kritiker vor Neid erblassen lässt, und diese Geschichte gehört dazu. Was waren seine Gründe für diesen ungewöhnlichen Schritt? Das, was man wohl am besten mit «aufgeklärtem Eigennutz» bezeichnen kann:
Der hohe Lohn reduzierte generell die Fluktuation in den Fabrikhallen.
Zufriedene Mitarbeiter blieben länger bei Ford und wurden produktiver, sodass das Unternehmen einen Großteil der Trainingskosten einsparen konnte.
Diese Einsparungen wiederum wirkten sich positiv auf den Preis eines Automobils aus.
Nach und nach konnten sich, aufgrund des höheren Lohns, die Arbeiter bei Ford selbst ein Auto leisten.
Fazit: Innerhalb von nur zwei Jahren konnte die Ford Motor Company ihren Gewinn verdoppeln, von 30 auf 60 Millionen Dollar.
Die echte «Nummer Sicher» wäre jedoch etwas ganz anderes: Mitarbeitenden Freiraum zu gewähren, das zu tun, was man auf Englisch thinking outside the box nennt. Der Ausdruck bezieht sich natürlich auf die bekannte Kreativitätsübung, bei der man neun Punkte, in drei Dreierreihen untereinander angeordnet, mit vier Strichen verbinden muss, ohne den Stift abzusetzen. Das geht, wie wir alle irgendwann einmal herausgefunden haben, nicht, ohne dass man die vorgegebene Grenze überschreitet. «Vorgegebene» Grenze? Ist es nicht eher die «selbst auferlegte», die imaginäre Grenze, die uns davon abhält, auf Anhieb mit vier Strichen diese neun Punkte miteinander zu verbinden? Oder ist es am Ende wieder einmal unser Schulsystem, das uns zum Denken in zu engen Grenzen anhält? Sicher liegt hier die Basis dieses Problems; einer meiner Lieblings-Cartoons drückt es so aus: Ein bedrückt aussehender Mann sagt zu einer Kollegin: «Als Kind wurde ich immer kritisiert, weil ich außerhalb der Linien malte. Jetzt wundert sich mein Chef, warum ich immer in festgetretenen Pfaden denke.»1 1
Probleme werden ohnehin nicht durch effiziente, sondern durch lösungsorientierte Menschen aus der Welt geschafft. Neue Lösungen für unser immer komplexeres Zusammenleben sind das, was überall vonnöten ist, und neue Lösungen brauchen nun mal neue Sicht- und Denkweisen. Das scheint jedoch noch ein wohlgehütetes Geheimnis zu sein.
Die Situation ist alltägliches Vorkommnis in den meisten Firmen, und Sie selbst haben sie sicher schon x-mal als Opfer oder Zeuge erlebt: An einer Sitzung präsentiert jemand eine neue Idee. Die anderen SitzungsteilnehmerInnen hören aufmerksam zu, der oder die Präsentierende ist sich zunehmend ihres Interesses, wenn nicht sogar schon ihrer Zustimmung sicher. Zufrieden, sogar leicht euphorisch, setzt er oder sie sich und harrt der Reaktionen auf den soeben präsentierten genialen Vorschlag – und hat sich insofern nicht getäuscht, als wirklich alle aufmerksam zugehört haben.
Aber seit dem Moment, wo sie erkannt haben, dass hier etwas bahnbrechend Neues präsentiert wird, haben alle nur noch mit halbem Gehirn hingehört, um mit der anderen Hälfte ihre Gegenargumente formulieren zu können. Kaum endet die Präsentation, hageln die Killerphrasen von allen Seiten auf die oder den Wagemutige(n) hinab.
Seien Sie nicht überrascht, schon gar nicht irgendjemandem böse – in unserer Kultur und Erziehung wäre jedes andere Verhalten außerhalb der Norm. In einer groß angelegten Abhandlung hat sich das deutsche «manager magazin» 1993 mit Kreativität im Unternehmen auseinandergesetzt.2 2 Darin gibt es auch ein langes Interview mit dem Psychoanalytiker, Denker, Unternehmensberater und Autor Rolf Berth , der als Dozent am Internationalen Management-Institut in Genf arbeitete und eine Langzeitstudie über Innovation in Deutschland erstellt hat.
Auch er ist sich der Hemmschwelle für Neues im deutschsprachigen Raum bewusst und nennt die schlimmsten Fehler in Sachen Innovation schonungslos beim Namen: «Erstens die Überschätzung der Erfahrung, die wertvoll ist, aber auch blockiert. Zweitens das fehlende Wissen über Innovation. Drittens die Unfähigkeit, Ideen weiterzuentwickeln. Das muss eine Kulturkrankheit sein, dass wir auf Neues so negativ reagieren, während das Wiederkäuen des oft Gesagten große Befriedigung hervorruft.» 3
Читать дальше