„Hier! Nimm das. Ihr findet sicher viele. Aber nur die guten nehmen, verstanden?“
„Ja, danke. Du, Brigge, ich sagte eben zu Fräulein Wiegand, daß Anselm mich so stark an jemanden erinnert. Kannst du mir nicht helfen, an wen? Es liegt mir auf der Zunge.“
„Nein, da kann ich dir nicht helfen“, sagte Brigge und lachte. Sie lachte, daß ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden über den festen braunen Wangen. Henner fand, daß eigentlich kein Grund zur Heiterkeit vorhanden sei.
Sie merkte es und versuchte, ernsthaft auszusehen.
„Entschuldige. Aber nun los. Und viel Vergnügen!“
Sie stand und winkte ihnen nach, trocknete sich dann mit dem Zipfel ihres Kopftuchs die Augen. Henner fühlte sich durch ihren Lachausbruch etwas gestört. Ihm wäre wohler gewesen, wenn sie ihnen nicht nachgewinkt und nicht so unbändig – er dachte ,zügellos‘ – gelacht hätte. Na ja, Frauen, unberechenbar und schwer zu verstehen.
Mit Fräulein Wiegand war es leichter, auszukommen. Sie hatte eine merkwürdig lässige Art, das Leben zu nehmen oder wenigstens darüber zu sprechen. Nicht snobistisch, aber beinahe, nicht negierend, aber manchmal etwas wegwerfend. Nichts ernst zu nehmen, weder sich noch ihre Arbeit, weder die einzelnen noch die Ideale der Menschheit. So ähnlich waren auch die Texte der Lieder, die sie selbst schrieb und selbst vertonte. Henner, mit seiner zur Zeit so bedauerlich zwiegeteilten Seele, empfand das als angenehm, ja, als heilsam. So ähnlich, wie Jod auf einer offenen Wunde brennt, aber man fühlt, daß es gut tut. Warum war eigentlich seine Seele so halbiert?
Unsinn, darüber zu grübeln. Er gab sich einen Stoß und war zwanzig Minuten lang der bezauberndste Plauderer, den man sich denken konnte; das lag ihm, wenn er eine gute Zuhörerin hatte. Dann aber fanden sie Pilze, und er brauchte seine geistigen Reserven nicht weiter anzugreifen.
Fräulein Wiegand war übrigens hier, wie es schien, Kennerin. Sie schnitt jedenfalls ab, was ihr unters Messer kam und was ihm, der doch wahrhaftig den Wald und seine Erzeugnisse kannte, Abschaum und Teufelei dünkte. Perlpilze, Hallimasch, Totentrompete – sein Haar sträubte sich allein schon beim Anblick dieses Pilzes, vielmehr noch, als er den Namen hörte. Aber Fräulein Wiegand lachte nur und hatte so satanisch rote Lippen, freilich gemalte, aber gut gemalte, und solch eine Sicherheit, daß die seine zu wackeln begann. Wußte sie es wirklich besser? Die Jungen schwärmten vor und hinter ihnen durch den Wald, machten jeden Weg dreimal wie Hündchen und kündigten ihr Nahen immer durch aufgeregtes Schreien an. Radau im Wald geht jedoch jedem Waidmann auf die Nerven und ihm der Lärm der Bengel besonders. So war Henner, als das Netz gefüllt war, etwas erschöpft, teils von der Pilzernte, teils von den Jungen. Zu Hause ging der Kampf dann erst recht los. Brigge weigerte sich rundweg „das Zeug“ in die Küche zu nehmen, sie hielt sich an Rotkappen und feucht lackierte Butterpilze, die ihre Söhne brachten, und natürlich Stein- und Semmelpilze. Alles andere – „ohne mich!“, sagte sie.
Das fand Henner nun wieder übertrieben. Sicher, bis zu einem gewissen Grade war er ihrer Meinung, aber man brauchte ja das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Dazu hatte Brigge immer geneigt. Und Fräulein Wiegands verblüffende Sicherheit machte ihn stutzig. Er kam dazu, als sie ihre Beute selbst putzte und schmorte, und sie machte es trotz der roten Tigerkrallen äußerst appetitlich. Es wurde ein tüchtiges Pfännchen voll, und sie war Eva genug, Henner mit dem harmlosesten Gesicht der Welt einzuladen, ob er nicht mitessen wollte.
O Schlange! Vorhin hatte er ihr, Brigge gegenüber, beigestanden, konnte er nun kneifen? Ritterlichkeit gegen Vergiftungsangst, Rechthaberei, Schadenfreude und Rachegelüste – Herrgott, wer findet da noch durch! Kurz und schlecht, Henner aß, und schon am Abend war ihm hundsmiserabel.
„So, das kommt davon“, sagte Brigge, der er sich – ganz kleiner Junge mit Bauchweh – anvertraut hatte, und das mußte sie sagen, sonst wäre sie unweigerlich in Atome zersprungen. Sonst aber war sie freundlich und hilfsbereit, bezweifelte nun ihrerseits eine Vergiftung, zumal sie sah, wie fidel und munter Fräulein Wiegand herumspazierte, und die hatte doch den Löwenanteil verspeist, und tippte auf Gallenkollik. So sah man von Magenauspumpen und ähnlichen Scherzen ab, versuchte es mit heißen, nassen Kompressen, und siehe, Brigge, der alte Quacksalber, behielt recht. Henner war wieder da.
Am anderen Morgen war alles im Lot. Die Töchter, die vor seiner Zimmertür lauerten, durften kurz zu ihm hinein, und ihre Gegenwart tat ein übriges.
Brigge beobachtete die drei und fand voller Erstaunen und Hochachtung, die sie allerdings verbarg, daß Henner etwas konnte, was die wenigsten Männer vermögen: Er konnte verlieren, und zwar mit Haltung. Ja, mit Humor. Er machte sich über sich selbst lustig. Die Mädchen lachten Tränen, als der Vater ihnen seine Bockigkeit und die darauffolgende Angst schilderte. Brigge empfand ein deutlich schlechtes Gewissen. In dem dunklen Drange, ihm etwas Gutes anzutun – ach, er war doch in Wahrheit ein netter Kerl! –, ging sie in den Garten und schnitt einen großen Strauß Dahlien. Gerade kam der Pastor, bei dem Schimmel Konfirmandenstunde hatte, vorbei. Er bewunderte die Blumen so sehr, daß Brigge sich gedrängt fühlte, ihm den Strauß zu schenken. Sie sah ihm wehmütig nach, wie er mit der bunten Pracht verschwand.
Nun hätte sie ja einen zweiten Strauß schneiden, hätte zu Henner hineingehen, ihn beim Kopf nehmen und ihm sagen können …
Auf einmal erschien ihr das ganze dumm und gefährlich. Henner war ein Mann, ein richtiger, ganzer Kerl, trotz seiner kleinen Schwächen. Vielleicht verletzte sie ihn ernsthaft, ja, tödlich, vielleicht war diese törichte Spielerei das, was ihn endgültig von ihr schied? Sie lief in plötzlicher Hast ins Haus, die Treppe hinauf, erreichte atemlos die Tür, klopfte. Kein Herein. Als sie vorsichtig öffnete, sah das Zimmer ihr leer und höhnisch entgegen.
„Vati? Vati ist vorhin mit Fräulein Wiegand weggegangen. Nein, nicht reiten. Sie sagten etwas von einem langen Spaziergang“, berichtete Gisela von ihren Schularbeiten aus, die sie in der Laube hinterm Haus zu machen vorgab. In Wirklichkeit aß sie Birnen, die der alte Baum über ihr in verschwenderischer Fülle abgab, und bastelte an zwei Antwortbriefen. Der eine betraf Herrn Instermann, den sie in Gedanken längst Fred nannte und sich deshalb diesbezüglich immer wieder verschrieb, so daß der Brief sehr lange brauchte, bis er fertig war, der andere an Benno. Benno ganz abzuhängen, weil Fred aufgetaucht war, widerstrebte Giselas Gerechtigkeitsgefühl. Außerdem war Benno in ihrer Klasse, also in Celle, während Fred – nun, wer wußte, wann ein tyrannischer Vater ihn wieder zu sich und von dieser schönen kleinen Stadt fortbefahl? Ein Mitschüler in der Hand ist besser als ein „richtiger“ Mann mit Kamera und Beziehungen zu großen Zeitschriften auf dem Dach …
Gisela wußte, daß Benno sie liebte, und sie besaß den untrüglichen weiblichen Instinkt, daß man solche Männer, auch wenn man sie nicht widerliebt, gut behandeln muß. Natürlich nicht zu gut, aber beileibe nicht ruppig. Ein Quentchen Ironie, viel herablassende Freundlichkeit und ein Schuß Versprechen, das man nie halten würde. Gisela war siebzehn Jahre alt und völlig unerfahren, aber durchaus richtig ausgerichtet, was das Verhalten Männern gegenüber betraf. Kein Wunder, hübsch wie sie war.
Sie war also sehr mit ihren Angelegenheiten beschäftigt und merkte nicht, daß Brigge nach ihrer Antwort hin nachdenklich und in durchaus gemäßigtem Tempo den Garten durchquerte. Jeder Mensch ist von seinen eigenen Sorgen ausgefüllt.
Es war ein traumhaft schöner Tag. Der Himmel hoch und klar, wie er es nur im Herbst sein kann, die Luft durchsichtig und so leicht zu atmen, daß sich einem die Brust weitete. Brigge liebte den Herbst; immer erst lebte sie richtig auf, wenn diese kristallenen Tage kamen. Dennoch oder gerade deshalb war sie unruhig. Unruhig, sehnsüchtig und ein wenig schwach. Bisher war sie frechvergnügt und ihrer Sache sicher gewesen. Nein, sie konnte jetzt unmöglich in die Brombeeren gehen, am Ende traf sie die beiden, und das hätte nach Absicht ausgesehen. Kurzentschlossen nahm sie das Fahrrad und fuhr an die Oerze, also in genau entgegengesetzter Richtung. Gisela hatte ihr gesagt, wohin die beiden sich gewandt hatten.
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