Darüber läßt sich eine Weile reden, wenn man Kleist in der Schule durchgekaut hat. Alle Rollen sind einem gegenwärtig und Jos Auffassung des Stücks konnte man ja getrost als die eigene servieren. Er horchte lange und intensiv zu.
„Wie nahe man sich kommen kann, wenn man ein ähnliches Geschick trägt“, murmelte er, ehe er aufstand, um zu bezahlen. Dann setzte er sich wieder, faltete die Hände auf dem Tischtuch, während er die Arme weit ausgebreitet darauf liegen hatte, und beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber. Sie sah, daß er wunderschöne, hellbraune Augen hatte mit goldenen Tupfen darin. Sein Gesicht war so aufgetan und gut, daß es ihr beinah leid tat, so geschwindelt zu haben.
„Darf ich Sie Wiedersehen?“ fragte er, gleichzeitig bescheiden und dringlich, „darf ich – es liegt mir so viel dran! Ich könnte Ihnen natürlich auch Abzüge schicken und meinen Namen draufschreiben nebst Adresse und Sie bitten, mir zu antworten, wie Ihnen die Bilder gefallen. Sie kennen ja die Masche. Aber ich möchte – ich möchte –“
Er schwieg eine Weile und sah auf das Tischtuch herunter. Dann fuhr er fort, hastig, als wollte er es schnell hinter sich haben: „Ich bin nicht mehr jung, ich meine – wenn Sie das nicht stören würde –“
„Wie alt denn?“ fragte Gisela kindlich. Sie fand, hier müßte man von vornherein klaren Wein einschenken.
Er murmelte beschämt: „Zweiunddreißig.“
Zweiunddreißig. Fünfzehn Jahre älter als sie. Fünfzehn – zwei Jahre älter als Jo. Und den fanden viele aus der Klasse schon verkalkt, besonders die Jungen. Aber er sah jung aus, der Mann ihr gegenüber, er hatte gar keine Falten in den Augenwinkeln und noch alle Haare, überhaupt keine Geheimratsecken. Vielleicht konnte er sogar noch schwimmen und skilaufen, von reiten und radeln gar nicht zu reden. Reiten taten manche bis sechzig, Dressur jedenfalls. Aber wenn er ritte, hätte er vorhin anders reagiert, das hatte sie sicher im Gefühl.
„Machen Sie sich nichts draus“, sagte sie deshalb rasch entschlossen und herzhaft, „es gibt auch nette ältere Leute. Ja, wirklich, wir haben einen Lehrer – er ist allerdings etwas jünger als Sie, aber soweit ganz prima –“
Um seinen Mund zuckte es, er verbarg es mit Mühe.
„Wie schön, daß Sie so denken“, sagte er erleichtert, „und wie ist es mit einem Wiedersehen? Wann? Und wo? Ich werde den Film sofort entwickeln und kann Ihnen die Bilder spätestens – spätestens –“, er rechnete. Sie wartete. Dann verabredeten sie das Nötige, und er brachte sie an den Bus. Darin traf sie tatsächlich Irmgard, die in Bergen, also auf halbem Wege, wohnte und mit der sie gewöhnlich fuhr. Wie kam es, daß diese heute auch den späteren Bus genommen hatte?
„Bin ich dir Rechenschaft schuldig?“ fragte Irmgard schnippisch, als sie losgefahren waren und Gisela sie darüber zur Rede stellte. „Wer war übrigens dieser Scheich, der dich da mit den Augen fraß?“
„Scheich? Ein sehr netter junger Mann.“ Ganz wenig hatte sie vor „junger“ gezögert, kaum merklich. Irmgard war das nicht ganz entgangen.
„Ja, jung“, sagte sie gedehnt und merklich geringschätzig, so daß Gisela rot vor Zorn wurde.
„Denk bloß nicht, daß – übrigens finde ich schon lange, daß dieses grüne Gemüse mir zum Hals heraushängt, Benno und Konsorten. Ist nichts, kann nichts, weiß nichts und hat die große Klappe. Übrigens ist dieser Fotograf, ätsch. Hat mindestens fünf Filme von mir geknipst, übermorgen krieg’ ich die Bilder. Und er arbeitet für ,Film und Frau‘ –“
So, da hatte es Irmgard. Sie zeigte sich auch beeindruckt, ja, kleinlaut. Ihre Antwort war nur ein schwaches Rückzugsgefecht. „Trotzdem, ich weiß nicht –“, murmelte sie. „Bei unseren Jungen weiß man doch, woran man ist.“
Gisela stieß verächtlich die Luft durch die Nase. Da kam schon Bergen, und Irmgard stieg aus. Gisela fühlte sich als Siegerin. Sie fuhr weiter, im Stehen, die Hand in eine der Lederschlaufen am Dach des Busses gehängt und den Kopf an den Arm geschmiegt. Dabei summte sie vor sich hin. Es war wieder ein Lönslied, aber ein anderes, als Brigge damals gesummt hatte. Die beiden Mädchen waren sozusagen mit Lönsliedern aufgewachsen, man lebte in der Heide, und Brigge sang gern.
„Was die grüne Heide weiß,
geht die Mutter gar nichts an,
niemand weiß es außer mir
und dem jungen Jägersmann …“
Jung. Zweiunddreißig oder dreißig – war das ein solcher Unterschied? Fred oder Jo – dieses Problem war wichtiger. Am besten, man entschied sich zunächst mal gar nicht und behielt beide im Auge – – –
*
Brigge hatte viel zu tun. Die Wäsche, die Einkäufe, laufende Schreibereien, die Pferde. Die sollten eigentlich die beiden Mädchen ganz allein versorgen, aber Brigge tat gerade diese Arbeit so gern, daß sie die Töchter meist etwas später weckte und sagte: „Lauft nur, daß ihr den Bus kriegt. Ich mach’ den Stall schon.“ Brigge stand gern früh auf. Henner hörte ihre Stimme durch den Garten klingen, sie war fröhlich und in sich ruhend, irgendwie in Ordnung, während er sich noch im Bett streckte. Wenn sie sich seinem Fenster näherte, wurde sie leiser – nun ja, man mußte auf seine Gäste Rücksicht nehmen. Ob der Betrieb hier auch im Winter weiterlief?
Henner hatte nicht viel mitgekriegt von den wirtschaftlichen Verhältnissen dieser kleinen „Reiterpension Heidehof“. Er mochte nicht fragen. Es kam ihm indiskret und ihm nicht zustehend vor. Dabei – Herrgott, man war einmal miteinander verheiratet gewesen, durfte man da nicht Interesse zeigen? Henner fand das empörend und bedauerte nur, keinen zu haben, gegen den sich diese Empörung richten könnte.
Außerdem fand er nach wie vor, daß die Jungen an einer viel zu langen Longe liefen. Der Mutter parierten sie ja soweit – was man hier Parieren nannte – aber … nun, es mußte wohl am Vater liegen, der zu selten da war. Einmal brachte Henner die Rede auf ihn, als er mit Omme allein war, irgendwie mußte doch etwas über den Vater der Buben zu erfahren sein.
Aber da erfuhr er nicht viel. Omme war eine vertrackte Person, die auch heute noch mit einem Mann machte, was sie wollte – wenn sie wollte. Sie hatte gleichzeitig Charme und Persönlichkeit, und dazu war sie verteufelt gescheit.
Eine nicht einfache Mischung, in der Tat. Henner war nachher so klug wie vorher.
Es hatte in der Nacht geregnet, nun war es wieder warm und sonnig.
„Pilzwetter“, sagte Schimmel und kam am Nachmittag mit ihrem bunten Halstüchlein voller Pfifferlinge heim. „Nur so, in zehn Minuten. Es gibt massig.“ Sie liebte vor allem Pfifferlinge, hatte als Kind ein Bilderbuch besessen, in dem es hieß:
„Die kleinen Pfifferlinge
sind immer guter Dinge,
sind immer froh und heiter,
und wachsen lustig weiter.“
„Danke dir, die kriegt Vati. Er ist ein großer Pilzfreund wie eigentlich alle Jäger“, sagte Brigge und nahm ihr den goldbraunen Segen ab. Gerade guckte Henner in die Küche.
„Wie schön – wir wollen eben ein Stück gehen, Fräulein Wiegand und ich. Sollen wir Pilze mitbringen?“
„Natürlich! Jede Menge!“
Henner erbat sich ein Netz. Brigge wollte ihm ein Körbchen geben, aber er wies es zurück.
„Geben Sie es mir, ich will mit“, sagte Fräulein Wiegand.
Brigge lachte.
„Die Jungen können mitgehen, sie wissen die besten Plätze.“
Die Jungen – na, auch gut. Sie konnten ja die Beute dann tragen. Peter hopste mit seinem verbundenen Fuß aufgeregt vorneweg, Anselm folgte dem Kleineren. Henner ging neben Fräulein Wiegand.
„Hübsche Bengel, nicht?“ fragte sie und deutete mit dem Kinn auf die Jungen.
„Ja, besonders der ältere. Er erinnert mich an jemanden, ich komme nur nicht drauf, an wen. Kennen Sie das Gefühl? Es kann einen wahnsinnig machen.“ In diesem Augenblick erreichte Brigge ihn, um ihm ein zweites Netz mitzugeben. Das erste sei zu weitmaschig, kleine Pilze würden durchfallen.
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