„Bei mir nicht“, strahlte Fräulein Wiegand, und Henner sekundierte ihr.
An diesem Abend kam es nicht dazu, daß Henner und Brigge sich ins Schreibzimmer setzten. Es war einfach nicht möglich, mitunter ist das so. Fräulein Wiegand hatte ihr Schifferklavier dabei und spielte, auf der Bank vor dem Haus. Sie trug einen langhosigen, bunten Strandanzug, der über und über voller Blumen war, und es war, als blühte sie daraus auf, schmal und ein wenig fremd. Das Haar trug sie in halblangen Locken, die sich im Nacken teilten, wenn sie sich vorbeugte, während die große Ziehharmonika auf ihren schmalen Knien auseinander- und zusammenging. Sie spielte erst ein paar Volkslieder, bei denen auch die Kinder mitsangen, und dann andere, und plötzlich war sie in dem uralten, geheimnisvoll sentimentalen Walzer, der unter ihren braunen Fingern einen neuen, erregenden Charme bekam: Parlez moi d’amour.
„Sie spielen wunderbar“, sagte Henner, als sie geendet hatte.
Gisela sagte:
„Fräulein Wiegand komponiert selbst. Und macht auch die Texte. Bitte, singen Sie doch mal eins von Ihren eigenen Liedern!“ Ihre Stimme klang klar und hell und jung neben der ein wenig verbrauchten, aber trotzdem oder gerade deshalb so reizvollen der älteren. Henner sah einen Augenblick zu ihr hin, dann blickte er wieder Fräulein Wiegand an.
Sie lächelte. „Ach –“
„Doch, bitte! Das Sie neulich in der Laube sangen!“
Schimmel sekundierte. Fräulein Wiegand spielte eine kurze Einleitung und setzte dann ein, nebenbei und wie ungewollt, beim Kehrreim:
„Drum denke und träume und bilde dir ein – –
doch so, wie es war, wird es nie wieder sein – –“
Sie sang drei Verse. Beim dritten hatten alle den Refrain begriffen und sangen ihn mit. Es war ein halb spöttisches, halb wehmütiges Lied.
„Schön“, sagte Henner, aber weiter nichts. Der Text hatte ihn getroffen. War es Zufall, daß sie dies sang?
„Und jetzt das lustige von dem Mann, der sich nie entscheiden kann!“ verlangte Schimmel stürmisch. „Bitte, Fräulein Wiegand!“
Es wurde ein langer Abend. Längst war es dunkel, Sterne standen über dem Garten. Als sie aufbrachen, merkten sie, daß Brigge schon fort war. Henner bedauerte das.
„Sie hat die Jungen vorhin abserviert“, sagte Gisela und legte die Decke des kleinen Tischchens zusammen, um sie mit hineinzunehmen. „Sicher ist sie noch wach.“
Aber das Schreibzimmer war leer.
„Mutter muß frühzeitig raus“, sagte Schimmel und gähnte herzerfrischend lang und laut. „Nacht, Vati.“
Er fühlte einen weichen und frischen Kuß auf seiner Wange. Der Kuß und die junge Stimme gingen mit ihm in sein Zimmer und ließen sein Herz ein wenig zittern, zärtlich und weich. ,Die Töchter‘, dachte er, ,Schimmel, Gisela.‘ Ach nein, er blieb. Wann würde er wohl wieder einmal Gelegenheit haben, diese jungen Menschen ein wenig um sich zu haben? Schade, daß Brigge – aber diese Dame hatte doch eine sehr schöne und eigenartige Art zu singen. Was hier für Gäste herkamen! Drum denke und träume und bilde dir ein – –
Er schloß rasch das Fenster.
*
„Wenn du mir schwörst, daß du es niemandem sagst, niemandem, dann zeige ich dir was!“
„Ich halte doch den Mund, das weißt du!“
„Nein, schwören. Bei?“
„Bei wem du willst.“
Gisela stand und überlegte. Dann sagte sie:
„Du mußt sagen: ,Ich will so dick werden wie das Wirtschaftswunder und bis in alle Ewigkeit so dick bleiben, wenn ich auch nur eine Silbe weitererzähle.‘“ Das ,Wirtschaftswunder‘ war der Spitzname für eine Mitschülerin, ein bedauernswertes Geschöpf, das man früher als reizend und blühend, jetzt als fett wie eine Schnecke bezeichnete. Sie wog schätzungsweise fünfzehn Pfund mehr als Gisela oder Irmgard, und diese fünfzehn Pfund lasteten auf ihrer Seele wie der Amboß auf der Schulter des Diebes. Irmgard sah Gisela auch dementsprechend zögernd an. Einen solchen Schwur mußte man halten, und was nützte einem das Wissen um eine aufregende Neuigkeit, wenn man sie nicht weitererzählen konnte?
„Vielleicht ist es gar nicht so etwas Tolles“, murrte sie also und versuchte, sich gleichgültig zu stellen. Daß es was war, sah man schon daran, daß Gisela wie ein Derwisch hopste und tanzte. Sie konnte nicht eine Sekunde Stillstehen. Irmgard seufzte.
„Nein, gar nichts! Gar nichts von Bedeutung!“ jubelte Gisela unterdrückt. „Es ist so was, was noch nie – nie – so was war. überhaupt noch nie da.“
„Ein Brief?“ fragte Irmgard. Man konnte sich vielleicht langsam an die Sache herantasten und den Schwur damit umgehen.
„Ja!“ Gisela funkelte.
„Von Benno?“
Sie gingen hier ins Gymnasium, Jungen und Mädchen, und wer mit wem „ging“, das wußten die Banknachbarn und Freundinnen meist, mitunter sogar eher als die Betreffenden selbst.
„Benno.“
Gisela sprach diesen, ihr sonst nicht direkt unlieben Namen so mitleidig, so überaus geringschätzig und herablassend aus, als wäre Benno ein Neandertaler und schon seit einigen tausend Jahren außer Konkurrenz. Dabei – das wußte nun wieder Irmgard – war es noch nicht allzu lange hergewesen, da wurde Benno in Giselas Seelenheft gar nicht allzu klein geschrieben. Ach ja, Menschen ändern sich, und Frauen –
Irmgard verstand.
„Aber jemand aus der Klasse?“
„Ja und nein.“ Gisela hüpfte. Sie hatten sich in eine Ecke des Schulhofes verzogen, wo es einigermaßen still war. Nur ab und zu schusselten ein paar von den Kleinen heran, die Fangen spielten, oder andere suchten Kastanien, die hier, braunglänzend oder scheckig, aus ihrer stachligen Schale sprangen.
„Was heißt das, ja und nein“, sagte Irmgard ärgerlich, „gleich wird es klingeln, und wir müssen rein. Nun sag doch schon – –“
„Wer ist denn in der Klasse und doch nicht immer?“ fragte Gisela, brennend vor Mitteilungsdrang, „heute jedenfalls eine Stunde, morgen zwei –“
Sie sah Irmgard beschwörend an. Irmgard schaltete diesmal blitzschnell. Heute eine Stunde, morgen zwei …
„Der Jo!“ stieß sie hervor. „Der Jo! Sag, hat er wirklich – aber du lügst ja.“ Ungläubig, ja, verächtlich wandte sie sich ab. Gisela war mit einem Sprung neben ihr.
„Wenn du es nicht glauben willst – –“, sie vergaß, was sie vorher verlangt hatte – „hier –“ und zerrte aus der engen Tasche ihrer Hose einen Brief, versuchte, ihn mit fahrigen Fingern auseinanderzufalten, was nicht gleich gelang – da schellte es. Pause vorbei.
„So ein Schiet“, sagte Irmgard enttäuscht. Sie war so nahe dran gewesen, das Geheimnis zu erfahren. Gisela entfaltete den Zettel wenigstens soweit, daß man die Unterschrift lesen konnte.
„Ihr Jo. Na, glaubst du es jetzt? Nicht: Ihr Dr. J. Reinhardt, sondern: Ihr Jo. Bitte, da steht es, siehst du’s? Na? Was sagst du nun?
„Toll!“ mußte Irmgard zugeben, „unglaublich. Immerhin weiß ich ja nicht, was er schreibt. Jo ist sein Spitzname in allen Klassen, das weiß jeder, jeder Lehrer kennt seinen Spitznamen. Also so toll ist das auch wieder nicht. Ein vernünftiger Lehrer unterschreibt eben nicht mit allen Ehren- und anderen Doktoren, die er gemacht hat. Das fände ich sehr affig. Er weiß doch ganz genau, daß er überall, wahrscheinlich auch im Kollegium, Jo genanntwird.“
„Na, wenn schon. Trotzdem –“, Gisela ging auf den Leim und war von dieser Rede enttäuscht. „Immerhin unterschreibt er an mich ,Ihr Jo‘. Bitte. Hast du etwa schon mal einen Brief von einem Lehrer –“, sie waren jetzt im Gedränge der ins Haus strömenden Schülerinnen und Schüler und konnten nicht weiterreden, Überhaupt war die Schule recht störend. Immer, wenn man etwas Wichtiges vorhatte, kam sie mit ihren Forderungen dazwischen. Gisela drängte sich ärgerlich durch das Gewühle und lief ins Klassenzimmer hinauf. Irmgard kam viel später. Gleich darauf begann die englische Stunde, und es war keine Rede mehr davon, das angefangene Gespräch fortsetzen zu können.
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