Maria hatte die gleichaltrige Freundin schweigend angehört. Nun war Else zu Ende. Wie in verhaltenem Schluchzen hatte sie das Letzte gesprochen. Maria strich ihr tröstend über die Stirn.
„Armes Ding! Also war es im Grunde doch wieder einmal dieselbe Geschichte, um die es bei dir immer geht! Sei ruhig, Liebes! Es wird doch auch einmal ein Tag kommen, wo du aus der Umgebung hier, in die du herzlich schlecht hineinpasst, herauskommen wirst. Ihr seid wohlhabend, vielleicht reich. Du wirst irgendeinen Mann heiraten, der aus anderen Kreisen stammt, und die Lumpenelse hat dann aufgehört zu existieren.“
Ihr fiel nichts anderes ein, was sie hätte sagen können.
Else lächelte bitter.
„Du meinst es gut, Maria, und ich bin dir dankbar für jedes liebe Wort. Mutter findet mich überempfindlich; deshalb verberge ich es vor ihr schon seit langem sorgfältig, wenn ich mich wieder einmal wundgestossen.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die brennenden Lider. „Weisst du, Maria, meine Eltern hätten mich in die Volksschule schicken sollen; vielleicht hätte ich dort nicht so scharfe Augen bekommen. Ich lernte in der höheren Schule Unterschiede machen, beobachtete zu schroffe Gegensätze zwischen dem Milieu, in dem sich meine Kindheit abspielte, und dem, aus dem die anderen Mädchen kamen. Mein Weg, alle Morgen, war ziemlich weit von der dunkelsten Altstadt bis hinaus in den vornehmen Westen. Ihr anderen wohntet fast alle näher. Und so weit der Weg, rein räumlich gemessen, bis zur Schule, so weit war er auch, wenn man die Entfernung aufs Seelische überträgt.“ Fast laut war ihre bis dahin zu halbem Flüstern gebändigte Stimme. „Ihr alle, die ihr aus euren Villen und grossen, eleganten Mietswohnungen den allmorgendlichen Schulgang antratet, ahntet ja nichts davon, wie weit ich laufen musste bis zu euch. Aus der fernsten, fremdesten Fremde kam ich, aus der Altstadt mit ihren anrüchigen Bewohnern, wo sich Faulenzer und Dirnen verbergen, wo arme, heimatlose Stromer aus den elenden Herbergen krochen, wenn ich zu euch wanderte, um ein paar Vormittagsstunden zu euch zu gehören. Dem Schein nach zu euch zu gehören, denn in Wirklichkeit war ich den meisten eine Art Paria. Endlos war auch mein Heimweg von der Schule. Ich verlängerte ihn noch, denn immer noch viel zu früh betrat ich dieses Haus hier, in dem ich leben musste. Immer noch viel zu früh erzeugte mir der muffige Lumpengeruch den Widerwillen, den ich eigentlich niemals in meinem Elternhause richtig losgeworden bin.“ Sie stöhnte tief auf. „Lumpenelse bin ich, und Lumpenelse werde ich bleiben mein Leben lang, denn die nächsten Jahre geht meine Mutter aus dem allen hier doch nicht heraus, und später — du lieber Himmel, da wehre ich mich wohl überhaupt nicht mehr, da füge ich mich — fühle mich vielleicht ganz wohl hier und spotte über die Sehnsucht, die mich jetzt noch Tag und Nacht fortlocken will.“
Maria nahm den feinen Kopf der anderen zwischen ihre schlanken, doch nervigen Hände.
„Musst dich nicht in Bitternis verlieren, Fee, du darfst es nicht!“ Sie schlug absichtlich einen leichten Ton an. „Bist töricht, so zu sprechen! Wenn man jung und schön ist wie du, gibt es doch eine Menge Hoffnungen! Eine erfüllt sich sicher für dich. Wenn du jetzt die Tochter irgendeiner vornehmen Familie, aber dafür hässlich wärest, stünde es viel schlimmer für dich. Dann würdest du nicht aus Liebe geheiratet werden, wie es doch sicher bei dir einmal geschieht. Also freue dich auf die Erlösung aus der Altstadt durch die Liebe.“
Else entzog ihren Kopf den Fingern der Freundin.
„Lass, Maria, ich bin manchmal grässlich schwerblütig. Heute zerschellt all dein Trost! Sei mir nicht böse. Ich weiss, ich habe dir in dieser Beziehung schon sehr viel Arbeit gemacht.“
Maria lächelte. „Ja, zuweilen bist du ein bisschen unbequem, aber ich hänge an dir, habe dich lieb. Mir ist, als gehörst du in mein Leben.“
Elses zarte Züge waren plötzlich wie erleuchtet von einer starken, inneren Freude.
„Ich wäre ja bettelarm, wenn du dich nicht meiner angenommen hättest, du Liebe, du Gute! Ich bin undankbar, überhaupt zu klagen. Aber manchmal werde ich mit all dem Flachen, Niedrigen, zwischen dem ich meine Tage hinbringen muss, nicht fertig. Dann bedarf es nur eines kleinen Anstosses, und ich werde so klein und verzagt wie heute und quäle dich mit meiner Verstimmung. Doch nun ist’s genug damit! Ich besorge jetzt Kaffee, und später begleite ich dich ein Stückchen.“
Mit leichtem Sprung war Else aus ihrer halb ruhenden Haltung aufgeschnellt und verliess mit raschem: „Entschuldige mich nur wenige Minuten!“ das kleine, lauschige Gemach.
Maria blieb nachdenklich zurück. Sie hätte der Freundin öfter eine Abwechslung verschafft, sie ins Theater oder in ein Konzert mitgenommen, sie eingeladen, aber Else hatte ihr immer wieder gesagt, sie wisse ganz genau, dass sie offiziell nicht der passende Umgang für die Tochter des reichen und angesehenen Bankiers Römer sei, und sie wolle sich nicht in Gefahr bringen, über die Achsel angesehen zu werden.
Frau Meinert, Tobias Meinerts Frau, die im Geschüft und Haushalt half, brachte den Kaffee, stellte dazu Kuchen auf den Tisch und ging dann, der stadtbekannten Bankierstochter mit ehrerbietigem Gruss ihre Achtung bezeigend.
„Mein Vetter ist nun auch vor zwei Tagen angekommen“, begann Maria und trank. „Euer Kaffee schmeckt besser als unserer“, lobte sie. „Ich glaube, unsere Köchin zählt uns die Bohnen zu.“ Und nach dieser kleinen Bemerkung glitt sie wieder zurück. Ja, der Vetter sei jetzt da und habe heute früh seine Lehrlingsstellung im Bankhause ihres Vaters angetreten. Ein etwas alter Lehrling sei er allerdings, denn er sei schon siebenundzwanzig Jahre, aber heutzutage dürfe niemand zu alt für einen neuen Beruf sein, sonst ginge man zugrunde. Nach dem Kriege hätten ja die verschiedenen Berufe eine vollständige Umwertung durchgemacht, und jeder müsse jetzt versuchen, aus dem Chaos, in dem die Vorkriegszeit untergegangen, herauszufischen, was möglicherweise als Sprungbrett für unsere Tage zu verwerten sei. Und wer kein solches Sprungbrett fände, müsse eben einen grösseren Anlauf nehmen.
Maria sprach gern in Bildern. „So einen grösseren Anlauf nimmt nun mein Vetter“, plauderte sie weiter. „Ursprünglich zum Landwirt bestimmt, war er noch Primaner, als er Soldat wurde und in den Krieg ziehen musste. Als er heil und gesund zurückkehrte, war das väterliche, ohnehin schon schwerbelastete Gut noch schwerer belastet. Mein Onkel Werner ist nämlich herzleidend und hat sich nicht so um seinen Besitz kümmern können, wie es notgetan hätte. Einen Inspektor zu halten, langte es zuletzt nicht mehr. Da kam denn mein Vetter zurück und sprang ohne besondere Fachkenntnisse ein, und, wie seine Eltern erzählen, arbeitete unermüdlich. Aber die Karre war verfahren und konnte nicht mehr recht flott gemacht werden. Ein paar Missernten und einiges Pech anderer Art gesellten sich dazu, und es ging nur mühsam weiter. Da machte denn mein Vater den Verwandten klar, dass sie der neuen Zeit Zugeständnisse machen müssten.“ Sie zuckte die Achseln. „Vater hat wohl schon immer einen Sohn vermisst, glaube ich, und wäre sicher sehr froh, eine Hilfe und einen Nachfolger im Geschäft zu haben, der ihm nahesteht. Der Sohn seiner einzigen Schwester kommt natürlich als erster dafür in Frage.“ Sie lächelte Else an. „Jetzt verstehst du wohl, weshalb mein Vetter sich entschlossen hat, als Lehrling in das Bankhaus Römer einzutreten? Nebenbei bemerkt, ist er ein lieber, hübscher Mensch“, schloss sie, und Else schien, als bemerke sie ein Aufleuchten in den meist so kühlblickenden Augen Marias.
Sie nickte nur. Sie wusste nichts zu sagen und dachte bei sich: Ging da wohl schon die Liebe um in dem Herzen der Freundin? Bereiteten sich schon Dinge vor, ihr die einzige Freundin zu rauben? Denn damit musste sie rechnen: Wenn Maria sich verheiratete, würde die Freundschaft zu Ende sein. Marias Mann würde eine „Lumpenelse“ als Freundin seiner Frau kaum gelten lassen.
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