Als sie es zuerst hörte, war sie acht Jahre gewesen. Heute war sie achtzehn Jahre, und seit drei Jahren lag die Schulzeit hinter ihr. Damals, als der Vater starb, meldete die Mutter sie von der Schule ab.
„Hast genug gelernt“, äusserte sie zu Else. „Für unsere Lumpen hat das doch keinen Wert. Ich brauche dich jetzt daheim!“
Von da an stand sie im Laden und half der Mutter, die eins der bestgehenden derartigen Geschäfte in der grossen Stadt besass. Eine wahre Goldgrube war das Geschäft der Frau Ottilie Falkenhein, so klein und schmutzig das Lädchen auch wirkte.
„Mir braucht niemand in die Karten zu gucken“, pflegte Frau Ottilie zu sagen und behielt trotz ihres sich ständig mehrenden Reichtums Laden und Wohnung in der elenden Altstadtgasse.
Else lebte in den dumpfen, immer halbdunklen Räumen, lebte wie in einem stumpfen grauen Traum, aus dem sie doch einmal erwachen musste.
Wie herrlich würde es sein, dieses Erwachen, fernab der engen, armseligen Gasse, fernab dem muffigen Lumpengeruch, irgendwo in heller, reiner Umgebung! Wie herrlich würde es sein, ein neues Leben zu beginnen und zu vergessen, dass es einmal eine Lumpenelse gab.
Ein plumper, vierschrötiger Mensch stapfte herein, Tobias Meinert, das Faktotum und die rechte Hand der geschäftstüchtigen Frau Falkenhein. Auch seine Frau arbeitete bei ihr. Er stand bei seiner Brotherrin hoch in Gunst und pflegte von ihr zu sagen: „Der gerissenste von allen Altwarenhändlern hier in Frankfurt ist ein Weib, ist meine Chefeuse. Hut ab vor ihr! Die haut den Deibel übers Ohr, wenn er sich mit ihr in ein Geschäft einlässt.“
Meinert hatte einen hochbeladenen Handwagen mit lumpengefüllten Säcken vor der Tür stehen, die er von Privaten abgeholt.
„Ist die Mutter da?“ fragte er kurz.
Er hatte nicht viel für die schmale, zierliche Else übrig. Dieses blonde zarte Menschenkind störte ihm das Bild der Frau, zu der er mit einer gewissen Verehrung emporblickte. So ein mageres Spätzchen, so ein blasses Wachspüppchen sah man ja gar nicht neben der breiten, rotwangigen Ottilie Falkenhein!
„Mutter ist in der Küche. Wenn Sie die Säcke im Hof abgeladen haben, möchten Sie das Papier in den Keller bringen“, entledigte sich Else in ihrer leisen Art des mütterlichen Auftrags.
Meinert brummte etwas und ging. Er schob den Handwagen durch den Hausgang in den engen Hof und kam dann wieder, um das Papier wegzuräumen.
Else trat an die Ladentür. Meinert umschwebte immer ein Geruch von Fäulnis, und sie wollte einen Augenblick Luft schöpfen. Es war Frühling, und ein linder, erfrischender Odem hatte sich auch in die enge Gasse verirrt. Strahlender Sonnenschein umwob all die altersgrauen, verwitterten Häuschen mit schimmerndem leuchtendem Glanz. Doppelt düster sahen sie aus in dieser grellen Helle. Ihre finsteren Torbögen waren wie riesige dunkle Mäuler, die furchterregend offenstanden und die armseligen Menschlein, die sich nahten, zu verschlingen drohten.
Else blickte gedankenlos die Gasse hinauf und hinab und bemerkte den Jungen nicht, der, in der Nachbarschaft wohnend, sie so oft durch seine Frechheit ärgerte.
„Guten Tag, Lumpenelse!“ Mit dem lauten Ruf trabte er eben, höhnisch grinsend, an ihr vorbei, gerade als von der anderen Seite ein schlanker, vornehm aussehender Herr kam. Er konnte deutlich das jähe Erröten des Mädchens beobachten, fing einen traurigen Blick aus zwei grossen Augen auf, dann schloss sich mit rasselndem Läuten die Tür des kleinen Ladens.
Unwillkürlich blieb Axel von Rechberg stehen. Hatte er die liebreizende Blondine auch erst bemerkt, nachdem der Gassenjunge „Lumpenelse!“ gerufen, so schien ihm doch, seit sich die niedrige Tür hinter ihr geschlossen, all der Sonnenschein ringum verschwunden. Er hätte den Bengel ohrfeigen mögen, der das süsse Ding verscheucht hatte.
Er las das grosse Schild, das im Schaufenster hing: Zahle die höchsten Preise für Lumpen und Felle, Alteisen, Metalle. Grössere Posten werden aus der Wohnung abgeholt. Über der Tür stand: Friedrich Gollingers Nachfolger.
Eine breite, wuchtige Frau trat aus dem Laden, hinter ihr ein vierschrötiger Mensch. Axel von Rechberg hörte, wie die Frau, über die Schulter gewandt, in den Laden zurückrief: „Wir gehen zum Wantalowicz hinüber, Else! In ’ner halben Stunde spätestens bin ich wieder da.“
Axel von Rechberg blickte den zweien nach, die jetzt den Fahrweg überquerten und auf der gegenüberliegenden Seite in eins der verwahrlosten und ältesten Häuser der ganzen Gasse traten. Alte Röcke und Stiefel hingen vor der Tür, sollten Sehnsüchte nach ihrem Besitz wachrufen. Ein Trödlerladen niedrigster Ordnung.
„Lumpenelse!“
Die vier Silben klangen noch immer in Axel von Rechbergs Ohr, aber nicht mehr, wie im ersten Augenblick, hart und hässlich, sondern eher wie ein leises, heimliches Singen. Der Spottname schien ihm zu einem Märtyrerkranz zu werden, aus dem rote Rosen sprossten und ein entzückendes Köpfchen umrahmten. Braune Augen blickten erschreckt. Über zarte Wangen glutete Scham.
Ohne weiter zu überlegen, drückte Axel von Rechberg die Klinke nieder. Das rasselnde Läuten erwachte.
Aus dem Hintergrund des Lädchens löste sich ein schmales Figürchen.
„Sie wünschen, mein Herr?“ wollte Else Falkenhein fragen, aber sie brachte kaum die Hälfte des Satzes hervor, denn sie erkannte jetzt in dem Eintretenden den fremden Herrn, der Zeuge ihrer Erniedrigung gewesen war.
„Lumpenelse!“ sauste und brauste es in ihren Schläfen. Mit tiefgesenkten Wimpern stand sie vor Axel von Rechberg.
Der Mann lächelte.
„Mein Fräulein“, begann er, „ich habe vielleicht in Kürze allerlei zu verkaufen, wofür dieses Geschäft Verwendung hat, und ich möchte Sie bitten, mir die Preise zu nennen, die Sie zur Zeit zahlen.“
Else blickte nicht auf.
„Dann müsste ich erst wissen, um was es sich handelt“, erwiderte sie leise.
„Natürlich!“ Er lächelte stärker. Der alberne Vers, der jetzt überall auf den Strassen gesungen wurde, zuckte ihm durch den Sinn. Fast übermütig zitierte er den Anfang:
„Lumpen, Alteisen, Knochen und Papier!“
Else trat unwillkürlich einen Schritt zurück. War es nicht Spott, der von den Lippen des Fremden zu ihr hinüberzüngelte und sie flammenheiss verbrannte?
Was wollte der Fremde von ihr?
Er hatte sicher nichts zu verkaufen an Friedrich Gollingers Nachfolger. Sie zu verhöhnen stand er hier in dem immer von leichtem Dämmer erfüllten Laden — sie zu verhöhnen, weil er ihren Spitznamen „Lumpenelse“ aufgefangen hatte.
Ihr Blick hob sich vom Boden, ward gross und dunkel.
„Kommen Sie wieder, wenn meine Mutter hier ist“, sagte sie kurz, „und zwar ungefähr in einer halben Stunde. Sie hat vergessen, mich über die heutigen Tagespreise zu unterrichten.“
Wie süss das Mädchen in seinem Zorn war! Es hatte ihn durchschaut. Aber so überempfindlich brauchte es doch auch nicht zu sein.
Er dachte nicht daran fortzugehen, sondern erwiderte: „Dann nennen Sie mir doch die Tagespreise von gestern, mein Fräulein! Ich möchte nur einen Massstab haben, ehe ich verkaufe.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Sie haben nichts zu verkaufen, und wenn, dann lässt ein Herr wie Sie das durch jemand besorgen.“
Er lächelte noch immer.
„Sind Sie eine so grosse Menschenkennerin, Lumpenelschen?“
Kaum war das Wort seinem Munde entflohen, hätte er es gern zurückgenommen. Aber es war zu spät. Und wie konnte er denn auch ahnen, was er damit anrichten würde? Eigentlich hätte er es wissen müssen, denn er hatte das blonde Mädchen vorhin vor dem Laden genau beobachtet und gesehen, wie der Spottname aus dem Gassenbubenmund sie getroffen.
Weshalb tat er das gleiche?
Totenblass ward das feine Gesicht, und die Augen schauten ihn an mit einem so schmerzvollen Blick, dass ein jähes Mitleid in ihm aufquoll.
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