In der Ferne hatten die Farben des Sommers Bilder wie aus der Südsee gemalt: Wie auf eine Wäscheleine gezogen, schien die Insel Fehmarn über dem Meer zu schweben. Bis in die Abendstunden hinein strich ein sanfter heißer Sommerwind vom Dorf hinüber auf die Ostsee. Die Strandkörbe im hellen Sand waren leer. Auf der Dahmer Seebrücke stand ein einsamer Angler, dessen Konturen sich dunkel gegen das im Sonnenlicht glänzende Meer abhoben. Nach dem Sieg gegen die Argentinier jagten die Fans am Strand Raketen in die Luft. Noch lange nach Mitternacht hörte man die Gesänge der Jugendlichen an der Promenade.
Am nächsten Mittag fuhr ich hinüber nach Neumünster ins Stadion an der Geerdtstraße. Dort spielte der FC St. Pauli zum 100. Jubiläum des VfR Neumünster auf. Mein ständiger Wochenend-Fußballbegleiter Gerd Sprotte war schon da und wartete an der Würstchenbude auf mich. Ich unterhielt mich vor Spielbeginn mit Florian Lechner, Marcel Eger und Fabian Boll. Flo hatte die Haare ganz kurz geschnitten, und Marcel war wie immer blendend gelaunt. Marcel Eger ist der freundlichste Fußballer, den ich je kennengelernt habe. Fabian berichtete von den Strapazen des Trainingslagers in Schneverdingen/Lüneburger Heide.
Insofern war es verständlich, dass in den ersten 45 Minuten kaum ein Unterschied zwischen den Veilchen aus der Arbeiterstadt und Braun-Weiß zu sehen war. Mit einer mageren 1:0-Führung ging der FC St. Pauli in die Kabine. Ich war überrascht davon, wie wenig Zuschauer aus Hamburg nach Neumünster gekommen waren. Mit Ausnahme von Boller wechselte Stani die gesamte Mannschaft nach der Halbzeit aus. Boller schien mir einmal mehr verbessert gegenüber den letzten Spielen in der zweiten Liga: Er war der beste Mann auf dem Platz. Nun spielte auch Gerald Asamoah, und das Spiel lief deutlich flüssiger. Die Veilchen aus der Stadt, in der Hans Fallada im Knast gesessen hatte, mussten mit zunehmender Spielzeit der Hitze Tribut zollen. Am Ende stand es 6:0 für den FC St. Pauli. Die Zuschauer waren nicht gerade begeistert gewesen von den Leistungen des Aufsteigers. Einzelne Spezialisten unkten, dass die Mannschaft vom Millerntor ein sicherer Absteiger sei.
Die Weltmeisterschaft in Südafrika ging weiter. Die Deutschen standen im Halbfinale, und nur Krake „Paul“ aus dem Oberhausener Zoo hatte das Desaster vorhergesehen. Gegen die Spanier schieden wir aus. Spanien wurde dann verdient Weltmeister gegen unsere holländischen Nachbarn.
Im Verlag war alles ernst und schwierig im Sommer des Jahres 2010.
Nach dem Ärger, den mein Artikel über die Gefährdung der Pressevielfalt im Frühjahr in der Branche ausgelöst hatte, und auch wegen meiner Erkrankung wollte ich nicht länger arbeiten als unbedingt nötig.
Mir lag daran, die Sache anständig abzuschließen. Immerhin war ich nun über 20 Jahre für die Ganske Verlagsgruppe tätig. Der Jahreszeiten-Verlag war zwei Jahrzehnte lang „mein“ Verlag gewesen, und dem Inhaber fühlte ich mich freundschaftlich verbunden. Nun drängten andere ans Ruder, deren Vorstellungen ich in einigen wesentlichen Punkten nicht teilte. Die sollten dann mal sehen, wie sie ohne mich klarkommen würden.
Ich wollte zum nächstmöglichen Zeitpunkt in Rente gehen. Auf den Rat meiner Schwester Ingeborg wandte ich mich an die Rentenberatungsstelle in Norderstedt. Als ich dort vorsprach, beantwortete mir eine freundliche junge Dame alle Fragen innerhalb von 20 Minuten. Mein Entschluss stand fest. Im Laufe des Jahres 2011 würde ich endlich das tun, was mir schon als Schüler in der zehnten Klasse stets vorgeschwebt hatte: Mich nur noch mit Fußball beschäftigen und sonst nichts tun. Ich spürte: Jetzt war ich endlich ganz nah dran. Niemand würde mich daran hindern, mein Lebensziel zu verwirklichen. Außer vielleicht meine Krankheit.
Bei einem sonntäglichen Frühschoppen im „Shamrock“ schlug Henning vor, dass wir am Mittwoch, den 4. August, doch gemeinsam mit den Rädern nach Eutin zum Freundschaftsspiel fahren könnten.
Das sei zwar nicht die von mir ersehnte Fahrt nach Eckelshausen zum 100-jährigen Jubiläum des dortigen SVE, aber Eutin fange doch auch mit E an. Der Vorschlag stieß auf allgemeine Zustimmung. Kai, Henning, Jasper und ich würden am 4. August mit den Fahrrädern nach Eutin fahren, in Eutin auf einem Zeltplatz nach dem Spiel übernachten und am Donnerstagmorgen die Heimreise antreten. Von Henstedt bis Eutin waren es knapp 80 Kilometer. Die konnte man an einem Tag mit dem Fahrrad gut schaffen, wenn man ab und zu eine Pause einlegen würde.
KAPITEL 4
DIE REISE NACH EUTIN
Als am Mittwochmorgen um halb sechs Kai an der Haustür klingelte, war ich wie zerschlagen. Ich hatte schlecht geschlafen. Doch schließlich war ich vor mehr als 40 Jahren einmal Soldat gewesen, und zwar bei den Bongos, wo normalerweise nur die „schweren Männer“ unterwegs sind. Da würde ich ja wohl die 80 Kilometer nach Eutin in einem Tag auf dem Sattel abreiten können!
In Kisdorf warteten Henning und Jasper beim Autohaus Wessel auf uns.
Unmittelbar bevor wir dort eintrafen, hatte eine Krähe auf Hennings T-Shirt geschissen. In Kisdorf gibt es nämlich einen berüchtigten Wald, in dem eine Krähenkolonie residiert. Die Kisdorfer Krähen scheißen alles voll. Aber Krähen sind geschützt, man darf sie nicht mir nichts dir nichts abknallen. Ich wischte Henning die weiße Kacke mit Wasser aus meiner Selterspulle ab.
Am Ortsausgang von Kisdorf geht es für Flachlandtiroler gleich mal in die Vollen. Ungefähr zwei Kilometer muss man bergan fahren. Jasper hatte sich gleich an die Spitze gesetzt und fuhr den Abschnitt an, als hätte er vor zwei Wochen den Tourmalet in den Pyrenäen mit dem Fahrrad bezwungen. Henning folgte an seinem Hinterrad, und nach dem ersten Anstieg hingen Kai und ich schon mindestens 100 Meter hinten dran. Ehrlich gesagt: Ich fand das Tempo viel zu hoch. Und mein Gewicht auch. Aber ich wollte die Stimmung nicht von Anfang an vermiesen.
Hinunter nach Kisdorferwohld holten Kai und ich die beiden Jungspunde wieder ein. Im Osten lugte die Sonne hinter dicken Wolken hervor. Es war jetzt angenehm warm, die Uhr zeigte Sechs.
Gegen sieben waren wir in Leezen. Wir hielten an einer Tankstelle, Jasper, Kai und Henning kauften sich ein Bier und tranken es in wenigen Zügen aus. Ich goss mir die Hälfte einer Flasche Sprudel ins Gesicht und den Rest trank ich aus, auf Ex.
Auf den nächsten Kilometern in Richtung Mözen stieg die Straße ständig an. Henning machte nun das Tempo, Jasper in seinem Windschatten, und alsbald hingen Kai und ich wieder 400 Meter hinten dran. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, zu einem Freundschaftsspiel des FC St. Pauli so eine Tour auf sich zu nehmen. Vor meiner Krankheit hätte ich die bisher absolvierte Strecke mit links geschafft.
In Mözen hatte einst Horst Hrubesch gewohnt. Dort, wo die Straße von der B 432 in den Ort abbog, warteten Jasper und Henning. Wir könnten hier baden und eine Forelle essen, schlug Jasper vor.
Es war jetzt kurz vor acht. Ich musste gar nichts sagen. Henning und Kai wollten weiter. Noch eine Steigung, dann passierten wir das Ortsschild von Bad Segeberg.
Am Straßenrand zeigte ein Schild den Abzweig zum Klüthsee an. Ich stieg in die Pedale und wollte diesen lächerlichen holsteinischen Hügel schaffen, ohne abzusteigen. Aber der Hügel zog sich nun schon über zwei Kilometer. Ich wollte meinen Krebs in den Griff kriegen. Ich wollte noch sehen, wie aus meinem Enkel Bjarne ein guter Fußballer wird. Ich wollte noch eine ganze Menge leben. Nach zwei weiteren Kilometern hatte ich diesen verdammten Anstieg geschafft, ohne vom Rad zu fallen.
An einer Brücke über die Trave machten wir die nächste Pause. Von der Straße aus sah man einen See. Die Sonne stand jetzt im Südosten, und die hohen Bäume warfen Schatten auf das Wasser. Libellen tanzten über den sich kräuselnden Wellen. Ein leichter Ostwind strich über das Schilfgras. Am Ufer stolzierte ein Storch auf und ab, „Pickpick“, wie ein Fallbeil schnappte er mit dem roten Schnabel zu und förderte einen Frosch aus dem Morast zutage. Je näher wir der Holsteinischen Schweiz kamen, umso schöner wurde die Landschaft. Sanft wellten sich die mit goldgelben Ähren bestandenen Hügel, bis sie am Horizont scheinbar in den Himmel mündeten. Schwalben schlugen zwei-dreimal kurz und kräftig mit den Flügeln und segelten dann ruhig durch die Sommerluft.
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