Ein Argument ist dabei die besondere Belastung in bestimmten Berufen. Umfragen unter Arbeitnehmern sollen die Unzumutbarkeit eines längeren Verbleibs verdeutlichen. Die IG Metall gab dazu vor einigen Jahren diese Ergebnisse heraus:
Quelle: http://www.igmetall.de/hintergrund-rente-mit-67-4419.htm/eigene Darstellung
Die Gewerkschaft wehrt sich nicht gegen die massive Rentenkürzung für alle, sondern appelliert an das Mitgefühl für alte Gerüstbauer und Dachdecker. Die 19 Prozent der Ingenieure, die angeben, ihren Beruf nicht bis zum Rentenbezugsalter durchhalten zu können, erscheinen daneben vergleichsweise unbedeutend.
Was immer von solchen Umfragen zu halten ist: Manche Berufe werden als stärker belastend und gesundheitsgefährdend wahrgenommen als andere. Es leuchtet ein, dass die eintretenden Schäden mit der Dauer der Berufsausübung zunehmen. Die Klausel „bei gleichbleibenden Arbeitsbedingungen“ ist als Mahnung an die Arbeitgeberseite gedacht, die ihren Beitrag dazu leisten soll, dass man auch am Bau bis 67 arbeiten kann.
Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) dementiert mit dem Verweis auf „arbeitsgestalterische Möglichkeiten“ (deren Realisierung allerdings bislang wenigen „Good-Practice-Beispielen“ vorbehalten ist6) den grundsätzlich gesundheitsschädlichen Charakter der von ihr kommandierten Arbeit:
6„So setzen nur 6,2 Prozent aller untersuchten Betriebe bestimmte Leistungsanforderungen für Ältere herab, und nur 5,1 Prozent statten die Arbeitsplätze altersgerecht aus. Meistens sind es eher größere Betriebe, die diese Maßnahmen anbieten (BMAS 2012, 15).“
„Beispiele guter Praxis aus dem Baugewerbe zeigen, dass durch Maßnahmen der Arbeitsplatzgestaltung und der Arbeitsorganisation – entgegen einer weit verbreiteten Auffassung – alterskritische Belastungen wirksam verringert werden können. Dementsprechend können sogar Berufe wie der des Dachdeckers bis zur Rente ausgeübt werden. Der Einsatz von Hebehilfen oder die Schulung der Mitarbeiter über Fehlbelastungen und gesundheitsbewusstes Verhalten sind hier wichtige Ansatzpunkte.
Wenn arbeitsgestalterische Möglichkeiten für einen Betrieb erschöpft sind, kann die Weiterbeschäftigung eines leistungsgewandelten Mitarbeiters (z. B. eines Gerüstbauers) durch körperlich weniger belastende Aufgaben gesichert werden. Erfahrene Facharbeiter können beispielsweise zu Projektverantwortlichen weiterqualifiziert werden (BDA 2013, 2).“
Beide Seiten führen die besonderen Belastungen in bestimmten Berufen an, um dann über einige Jahre mehr oder weniger Tortur zu rechten. Dabei ist diese Diskussion für die Mehrzahl der Betroffenen irrelevant. So gingen 2011 ca. 60 Prozent der Versicherten in Bauberufen bereits vor dem 60. Lebensjahr in Rente (vgl. DRV 2012a, 177). Die Übergänge in Rente aus der Arbeitslosigkeit sind hier besonders hoch.
Eine Studie zur Realisierbarkeit beruflich differenzierter Altersgrenzen, die besondere Belastungen berücksichtigen, kommt zu dem Schluss:
„Die fehlenden Chancen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gesund und erwerbstätig das Rentenalter zu erreichen, stellen ein erhebliches sozialpolitisches Problem dar. An diesem Problem werden auch beruflich differenzierte Altersgrenzen effektiv nur wenig ändern können. Lösungen müssen primär in der Arbeitsgestaltung und in der Erhaltung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit gesucht werden und erst nachrangig durch eine Variation rentenrechtlicher Regelungen“ (Brussig et al. 2011, 7).
Die für die Rentenkürzung politisch Verantwortlichen kennen dagegen nur gesunde und leistungsfähige Ältere:
„Für Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen ist der Fall klar: Die Älteren, sagt die CDU-Politikerin, seien so fit wie nie zuvor und bekämen im Durchschnitt inzwischen 18 Jahre Rente. Wenn die Menschen aber immer länger das gesetzliche Altersgeld bezögen, könnten sie ‚auch ein bisschen länger arbeiten‘ (Süddeutsche.de vom 24.06.2013 http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/erhoehung-des-rentenalters-furcht-vor-der-rente-mit-1.1703934).“
Ob die Betroffenen das auch so sehen, spielt jedenfalls keine Rolle. Der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière äußerte in einer Diskussion zum Instrument des Volksentscheids: „Es ist Aufgabe politischer Führung, auch unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen, die man für richtig hält. Die Rente mit 67 hätte es mit einer Volksabstimmung nie gegeben“ (Die Welt 25.11.13 http://www.welt.de/politik/deutschland/article122233616/Volksabstimmungen-beguenstigen-die-Nein-Sager.html).
Während die Gewerkschaften durch die Rente mit 67 eine Verschiebung potenzieller Rentnerkohorten in die Arbeitslosigkeit und damit einen Anstieg der Arbeitslosigkeit prognostizieren, begrüßen die Arbeitgeberverbände eine absehbare Linderung des Fachkräftemangels. Dies steht im Kontrast dazu, dass die Unternehmen früher Möglichkeiten, Entlassungen über Vorruhestandsregelungen abzuwickeln, gern wahrgenommen und 60-Jährige nicht als Fachkräftepotenzial angesehen haben. Heute hat allerdings die „Beitragssatzstabilität“ Priorität:
„Notwendig ist die Anhebung der Regelaltersgrenze vor allem mit Blick auf die gesetzliche Rentenversicherung. Die gesetzlichen Beitragssatz- und Rentenniveauziele (max. 22 % bzw. mind. 43 % bis 2030) können ohne Rente mit 67 nicht eingehalten werden“ (BDA 2013, 1).
Für Personalanpassungsmaßnahmen gibt es auch andere Instrumente als Frühverrentung.
Veränderte Mechanismen des Personalaustauschs
Mit der „Deregulierung“ des Arbeitsmarkts ist der Einsatz von Arbeitskräften so flexibilisiert worden, dass Altersgrenzen als Instrument des Austauschs an Bedeutung verloren haben.
Die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland haben sich seit den siebziger Jahren drastisch verändert. Während sich die Wachstumsraten erheblich verringert haben, ist die Produktivität stark gestiegen. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen ging zurück, und die Zahl der Erwerbspersonen nahm zu (vgl. Röger 2006, 25 ff.).
Das „Normalarbeitsverhältnis“ – unbefristete, sozialversicherte Vollzeitbeschäftigung – ist heute für viele keine kalkulierbare Lebensgrundlage mehr wie in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Der Lohn eines Mannes reicht nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren; Frauen müssen wenigstens etwas dazuverdienen und als Ersatzernährerinnen angesichts unsicherer Arbeitsplätze bereitstehen.
Viele sind daher gezwungen, Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, die dem Maßstab der Sicherung des Lebensunterhalts nicht mehr entsprechen. Die zeitlichen Spielräume, die Frauen für die Familienarbeit benötigen, werden von der Wirtschaft gegen drastische Lohnabschläge gewährt. Der Staat schafft dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen wie 450 €-Jobs. Weitere Ergebnisse dieser Deregulierungspolitik waren u. a. die erweiterten Möglichkeiten für den Abschluss befristeter Arbeitsverträge, Einschränkung des Kündigungsschutzes, Minderung von Transferzahlungen und verstärkte Anforderungen an Arbeitslose, sowie arbeitsrechtliche Verbesserungen für Teilzeitbeschäftigte (vgl. ebd. 27).