Gerhard Wettig
GorbatschowReformpolitik und Warschauer Pakt
Kriegsfolgenforschung
Wissenschaftliche Veröffentlichungen des
Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz – Wien – Raabs Begründet von Stefan Karner
Herausgegeben von Barbara Stelzl-Marx
Sonderband 25
Advisory Board der Wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung
Vorsitz Stefan Karner
Jörg Baberowski, Humboldt-Universität, Berlin
Beáta Katrebová Blehová, Institut für das Gedächtnis der Nation, Bratislava
Csaba Békés, Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest
Günter Bischof, University of New Orleans
Stefan Creuzberger, Universität Rostock
Thomas Wegener Friis, Süddänische Universität, Odense
Marcus Gräser, Johannes Kepler Universität Linz
Andreas Hilger, Deutsches Historisches Institut Moskau
Kerstin Jobst, Universität Wien
Rainer Karlsch, Berlin
Mark Kramer, Harvard University
Hannes Leidinger, Universität Wien, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung
Peter Lieb, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Ulrich Mählert, Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin
Horst Möller, München
Verena Moritz, Universität Wien
Bogdan Musial, Universität Warschau
Ol’ga Pavlenko, Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, Moskau
Dieter Pohl, Universität Klagenfurt
Pavel Polian, Universität Freiburg
Peter Ruggenthaler, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung
Roman Sandgruber, Johannes Kepler Universität Linz
Erwin Schmidl, Landesverteidigungsakademie, Wien
Daniel Marc Segesser, Universität Bern
Ottmar Traşcã, Universität Cluj-Napoca
Stefan Troebst, Universität Leipzig
Oldřich Tůma, Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag
Alexander Vatlin, Moskauer Staatliche Universität
Gerhard Wettig, Kommen/Deutschland
Vladislav Zubok, London School of Economics
Gerhard Wettig
Reformpolitik und Warschauer Pakt 1985–1991
Einleitung
Entwicklungen vor Gorbatschow
Fragestellung
Entwicklung der Politik Gorbatschows
Grundlegende Entscheidung für kooperative Sicherheit mit dem Gegner
Revision der offensiven Militärdoktrin
Verzicht auf konventionell-militärische Überlegenheit
Abschied von der „Brežnev-Doktrin“
Beginnender Systemwandel in der UdSSR
Veränderte Prioritäten in Deutschland
Politische Wende in Polen
Politische Entwicklung in Ungarn
Öffnung der ungarischen Grenze für Flüchtlinge aus der DDR
Streit unter den Warschauer-Pakt-Staaten im Herbst 1989
Entscheidung in der DDR
Öffnung der Berliner Mauer
Auseinandersetzung über die Wiedervereinigung Deutschlands
Gorbatschows Bemühen um eine sicherheitspolitische Alternative
Auseinandersetzung um die NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands
Zerfall des sozialistischen Lagers
Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostmitteleuropa
Auflösung des Warschauer Pakts
Rückblick und Ausblick
Vorgeschichte der Gorbatschow-Zeit
Gorbatschow, die NATO und der Warschauer Pakt
Gorbatschow und die Systemfrage
Auswirkungen
Literaturverzeichnis
Dokumente
Erinnerungen
Darstellungen
Personenregister
Ortsregister
Forschungsstand und ausgewählte Publikationen
Die Folgen der Reformen für den Warschauer Pakt sind im Gesamtzusammenhang und im Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte im ehemaligen Ostblock noch nicht thematisiert worden. Untersuchungen liegen nur über Gorbatschows generelles politisches Wirken, sein außen- und sicherheitspolitisches Vorgehen in bestimmten Hinsichten, die sukzessive Auflösung des sowjetischen Imperiums, das Ende des Kalten Kriegs und einzelne Vorgänge, die für das östliche Bündnis von großer, zuletzt fataler Bedeutung waren, vor. Außer Dokumentenveröffentlichungen zu Gorbatschows Politik und den ihr zugrundeliegenden Motiven sind vor allem auf Primärquellen gestützte Darstellungen seiner Entscheidungen wichtig.
Das gilt besonders für die Monographien von Stephen Kotkin. In seinen Ausführungen über die „Implosion des kommunistischen Establishments“, den mit der Auflösung des Warschauer Pakts verbundenen Zusammenbruch der UdSSR, führt er aus, dass die Reformen in der UdSSR einer auf den Machtapparaten Partei, Staatssicherheit und Militär beruhenden Anti-Zivilgesellschaft einen Umsturz von oben darstellten, den zusammen mit Gorbatschow Teile der kommunistischen Herrschaftskreise in Gang setzten, während die Opposition von unten schwach gewesen sei und sich weder als Gesellschaft konstituiert noch als politische Kraft organisiert habe. Mangels handlungsfähiger Organe habe sie keinen bestimmenden Einfluss ausgeübt, sei inkompetent gewesen und habe damit Anteil am Scheitern der Reformen. Mithin liege diesem Zusammenbruch nicht nur Gorbatschows Verzicht auf den Gebrauch von Gewalt zugrunde. 1 Diese Ansicht vertreten auch Gerhard und Nadja Simon in ihrem Buch über den „Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums“. Sie machen weiterhin geltend, die auf Enttäuschung beruhende Abkehr der Bevölkerung vom Sozialismus habe als Bewusstseinswandel weithin den Boden für Gorbatschow bereitet. 2
Kotkin erörtert, wieso die Weltkatastrophe, das Armageddon der biblischen Apokalypse, nicht eingetreten ist, und kommt zu dem Schluss, dass mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der schon zwei Jahrzehnte vorher begonnen hatte und bis zu Putins Machtübernahme weiterging, eine Lage entstanden war, die es nicht zum Krieg zwischen den Blöcken kommen ließ. Aufgrund der Lähmung der Führung im Kreml durch innere Konflikte konnten die spannungsträchtigen, auf Gewalt beruhenden sowjetischen Positionen im Osten Europas beseitigt werden, ohne dass es zum Krieg kam. Der herrschende Parteiapparat habe sich fortlaufend selbst zerlegt. Die Reformen, die Gorbatschow in Gang setzte, seien wegen Halbherzigkeit von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Weigerung, eine Marktwirtschaft zuzulassen, habe zum ökonomischen Ruin geführt. Seine Innenpolitik sei in jeder Hinsicht inkonsequent gewesen. Die eingeführten parlamentarischen Gremien hätten keine klaren Funktionen erhalten; seiner Präsidentschaft habe der administrative Unterbau gefehlt; die Justiz sei unentwickelt und oft auch abhängig geblieben; die Strukturen des überentwickelten Sicherheitsapparats hätten ohne Änderung überdauert. Insgesamt seien Liberalisierung und Demokratisierung Fremdkörper in den alten Institutionen gewesen. In dem Maße, wie die „ideologische Selbstzerstörung“ des Sowjetregimes fortgeschritten sei, habe sich völlige Rechtlosigkeit verbreitet. Demgemäß, so stellt Kotkin fest, sei das Staatseigentum Anfang der 1990er-Jahre zur Beute privaten Raubes geworden. Das abschließende Fazit lautet, dass Gorbatschow zwar selbst seinem humanitären Ideal treu blieb, aber mit dem Versuch scheiterte, Staat und Gesellschaft daran auszurichten. 3
Die Gorbatschow-Biographie von William Taubman stützt sich auf besonders umfangreiche sowjetische wie amerikanische Quellen und zeichnet auf dieser Grundlage ein überzeugendes Bild der politischen Persönlichkeit. 4 Kristina Spohr rückt in ihrer Darstellung der Wende ab 1989 die Charaktere und Einstellungen in den Mittelpunkt. 5 Die Vorgänge in der UdSSR und die damit verknüpften internationalen Beziehungen im Umbruchjahr 1989 wurden von Helmut Altrichter umfassend behandelt. 6 Die exzellente Darstellung der Interaktion mit dem Kreml in der Ära Bush von Robert Hutchings beruht zum einen auf der persönlichen Kenntnis vieler Washingtoner und Moskauer Interna, die er als Sowjetunion-Experte im National Security Council erhielt, und zum anderen auf den umfangreichen Unterlagen, die er bei seinen folgenden Recherchen einsehen konnte. 7 Jeffrey Engel zeigt aufgrund amerikanischer und sowjetischer Quellen, wie US-Präsident Bush und Gorbatschow 1989/90 zusammenwirkten. 8 Mark Kramer stützt seine sehr substanziellen, weit gespannten Ausführungen über den Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der sowjetischen Macht in Osteuropa unter anderem auf Materialien des Russischen Staatsarchivs für Zeitgeschichte in Moskau (RGANI). 9
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