»Du willst doch bestimmt deine Tasche wiederhaben, die du vergessen hast, als du mitten in der Nacht aus dem Fenster gesprungen bist.«
»Ja, natürlich«, murmelte er verlegen und versuchte an ihr vorbeizukommen. Doch sie rührte sich nicht vom Fleck.
»Es reicht dir wohl nicht, uns bis auf das letzte Hemd auszuplündern«, sagte sie, »du willst uns auch noch in Verruf bringen.«
Da diese Aussage einer Erklärung bedurfte, wandte sie sich an die anderen, die im Eingansbereich stehen geblieben waren: »Unsere Gastfreundschaft hat er gern in Anspruch genommen, als er ohne Ankündigung am späten Abend bei uns auftauchte und anfing, über das Erbe zu streiten. Ich habe ihm sogar etwas zu essen gemacht und Birgers altes Zimmer für ihn hergerichtet. Und dann springt er mitten in der Nacht einfach aus dem Fenster, läuft zu Brogrens Hof, poltert dort gegen die Tür, veranstaltet einen Heidenspektakel und will, dass sie ihm ein Taxi rufen. Sie waren zu Tode erschrocken, und es grenzt an ein Wunder, dass sie nicht die Polizei gerufen haben.«
»Was wäre denn passiert, wenn ich hier geblieben wäre?«, fragte Max düster. »Wenn ich in dem verdammten Bett geschlafen hätte. Kannst du mir das sagen?«
»Du hättest am nächsten Morgen ein Frühstück bekommen, das ist alles.«
»Ja, falls ich wieder aufgewacht wäre. Aber daran glaube ich nicht. Und das Frühstück wäre ein Mund voll Erde gewesen.«
Gertrud verdrehte die Augen. »Wovon redest du eigentlich?«
Darauf wollte Max nicht näher eingehen. Er riss Tasche und Mantel an sich und drängte sich an ihr vorbei nach draußen.
Gertrud zog die Tür hinter sich zu und führte eine ihrer berühmten Verwandlungsnummern vor.
Sie warf dem Anwalt einen flehenden Blick zu und schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist doch nicht normal«, sagte sie bekümmert. »Der ist richtig gefährlich mit seinen Fantasien. Sollte er nicht für unmündig erklärt werden? In seinem eigenen Interesse, meine ich.«
Auch der Anwalt wollte entkommen, doch versperrte sie immer noch den Weg. »Das ist eine Frage, die außerhalb meiner Kompetenz liegt«, murmelte er.
»Zurzeit kümmern sich ja mein jüngster Sohn und meine Schwiegertochter um ihn«, fuhr Gertrud unbeirrt fort. »Aber auf die Dauer ist ihnen das einfach nicht zuzumuten. Und man kann ihm auf keinen Fall eine größere Geldsumme anvertrauen. Man sollte einen Vormund für ihn bestellen. An wen kann ich mich in dieser Angelegenheit wenden?«
Der Anwalt sah aus, als litte er unter einem klaustrophobischen Anfall. »Einen Antrag auf Unmündigkeit können Sie im Prinzip beim Amtsgericht stellen. Aber dazu benötigen Sie natürlich ein ärztliches Attest und eine Stellungnahme des Sozialamts«, haspelte er und unternahm einen halbherzigen Versuch, ins Freie zu gelangen.
»Kann ich mich auch direkt ans Sozialamt wenden?«, fragte sie interessiert.
»Ja, warum nicht«, antwortete er vage. Dann machte er einen beherzten Schritt nach vorn und sah so aus, als wolle er schlimmstenfalls durch sie hindurchgehen.
»Dann werde ich Ihren Rat beherzigen und mich ans Sozialamt wenden«, sagte sie und gab endlich die Tür frei.
Birger und Gunnel traten ebenfalls die Flucht an und traten ihm fast in die Hacken, aus Angst, womöglich im Haus zurückbleiben zu müssen.
Petrus’ grüner Range Rover erreichte gerade den Wendeplatz, als Kajsa ihrem Mann über den Küchentisch hinweg einen verstohlenen Blick zuwarf. Auch er hatte den Wagen gesehen, und wie nicht anders zu erwarten, verfinsterte sich sein Blick.
»Was will der hier?«, fragte er mürrisch.
Sie erinnerte ihn daran, dass Petrus ihnen heute einen Teil des Bauholzes liefern wollte, das unter der Woche gebraucht wurde.
Olle löffelte den Haferbrei mit gehetzter Miene in sich hinein, und sie glaubte nur allzu gut zu wissen, was hinter seinen hochgezogenen Augenbrauen vor sich ging.
In der Euphorie des Augenblicks, unmittelbar nachdem der Hof ihrer geworden war, hatten sie mit Petrus eine Abmachung getroffen, die praktische Hilfe ebenso umfasste wie preisgünstige Materiallieferungen aus seinem Baumarkt. Doch später hatten sich ein paar Hintergedanken in Olles Kopf geschlichen. Die Freundschaftspreise, die er ihnen gewährte, kamen zwar ihrer angespannten Finanzlage, nicht jedoch seinem angeknacksten Ego zugute. Was immer er sie auch glauben machen wollte – er war tief gekränkt.
Nicht allein, dass Petrus sich gegenüber seiner Frau sexuelle Freiheiten herausgenommen hatte, er war auch sehr viel wohlhabender als Olle – ein Umstand, über den sich nicht mehr so leicht hinwegsehen ließ wie früher. Außerdem war er praktischer veranlagt, was Olle ebenfalls nicht gefiel. Wenn es darum ging, einen alten Hof zu renovieren, würde seine Hilfe unerlässlich sein. Und da Olle, zumindest dem Anschein nach, großmütig genug war, über den bedauerlichen Zwischenfall auf Petrus’ Flokati hinwegzusehen – und unbedingt sein Gesicht wahren wollte –, konnte er die Vereinbarung auch nicht einfach rückgängig machen und Petrus zum Teufel jagen. Er löste das Dilemma auf seine eigene Weise, nahm die uneigennützige Hilfe mit kaum verhüllter Herablassung in Anspruch und glaubte damit das Verhältnis auf den Kopf gestellt zu haben: Petrus’ Bedürfnis zu helfen wurde gnädig toleriert.
Joakim, den die atmosphärischen Spannungen kalt ließen, lief hinaus, um Petrus zu begrüßen. Und Kajsa tat das, was sie lieber hätte bleiben lassen sollen: Sie beschwor ihren Mann, sich anständig aufzuführen, wofür sie einen bösen Blick erntete.
»Soll ich etwa so tun, als seien wir ein Herz und eine Seele?«
»Nein, aber du könntest ein bisschen weniger gehässig auftreten.«
Er schob den Stuhl zurück. »Ich fahr mit rauf und helf ihm beim Ausladen«, brummte er, worauf er sich an Joakims Fersen heftete.
Sie schaute dem davonrollenden Wagen nach und befürchtete das Schlimmste.
Der Hof gehörte ihnen nun seit vier Wochen, und noch immer hatte sich kein Beziehungswunder ereignet. Aber wann hatten sie auch Zeit, um solch einem Wunder auf die Sprünge zu helfen? Alles drehte sich immerzu um den Umzug und Einkauf von Waren, um Bankkredite und Kalkulationen. Und Petrus’ Rolle als Freund der Familie war inzwischen untragbar geworden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Olle etwas Unüberlegtes tun, sie zum Beispiel auffordern würde, sich zu entscheiden.
In einer anderen und besseren Welt, falls solch eine überhaupt vorstellbar war, hätte sie sich für beide entschieden. Sie ergänzten einander so gut. Im Grunde ihres Herzens besaß sie eine große Schwäche für Petrus’ praktische Veranlagung. Ein Mann, der den Erfordernissen des Alltags so selbstverständlich gewachsen war, hatte etwas sehr Sympathisches an sich. Olle war unsteter, so wie sie. Unsicher und launisch, aber ein guter Begleiter bei mentalen Höhenflügen. Ihn wollte sie keinesfalls verlieren. Wenn in diesem Dreiecksdrama jemand geopfert werden musste, dann war es Petrus. Doch auch das war eigentlich unmöglich. Die Wurzeln ihrer Freundschaft reichten bis weit in die Vergangenheit zurück, in eine krisengeschüttelte Zeit, aus der sie dank Petrus mit heiler Haut herausgekommen war.
Genau gesagt, war es vor siebzehn Jahren gewesen. Sie stand damals ein Jahr vor dem Abitur und machte eine schwierige Entwicklung durch. Schließlich beschloss sie, die Flügel auszubreiten und im Einklang mit ihrer inneren Verwirrung zu leben. Das fiel ihr leichter, als sie geglaubt hatte. Sie gab sich mit Gleichgesinnten ausgiebigen Alkoholexzessen hin, blieb in den Nächten fort, wusste manchmal nicht einmal, wo. Den Sozialbetreuer ihrer Schule und den bestellten psychologischen Gutachter sah sie häufiger als ihre Lehrer. Und ihre Mutter trieb sie in den Zusammenbruch. Schließlich krönte sie ihr Werk mit einem lächerlich inszenierten Selbstmordversuch. Nicht dass sie in unmittelbarer Lebensgefahr geschwebt hätte – die Tabletten, die sie ihrer Mutter stibitzt hatte, hätten allenfalls einer Katze den Garaus machen können –, doch sie hatte ein Zeichen gesetzt, und nachdem ihr vorschriftsmäßig der Magen ausgepumpt worden war, stellte sie ihre Bedingungen. Sie wollte von zu Hause ausziehen.
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