»Was redet der da für einen Unsinn!«, rief sie aufgebracht. »Ich habe niemals von irgendeinem Johan gehört.«
»Es ist ja nicht gesagt, dass du alles weißt«, sagte Max. »Vielleicht gab es das eine oder andere, worüber Henning mit dir nie geredet hat.«
Der Anwalt wandte sich stirnrunzelnd seinen Papieren zu. »Henning Rösling hatte also einen weiteren Sohn?«
»Ja«, antwortete Max.
»Nein«, sagte Gertrud.
»Er ist tot«, sagte Birger, der in Max’ bizarre Vorstellungswelt eingeweiht war.
»Von wem redet ihr, verdammt noch mal?«, rief Leif.
Der Anwalt tippte irritiert mit seinem Stift auf die Tischplatte.
»Wann ist er gestorben?«, fragte er.
»Er wurde 1933 von seinem Vater ermordet«, teilte Max mit.
Gertrud lachte hysterisch auf. »Ich wusste zwar, dass du verrückt bist, aber dass es so schlimm um dich steht, hätte ich nicht gedacht«, schnaubte sie.
Max schlug mit der Faust auf den Tisch. »Er wurde ertränkt, und er war erst drei Jahre alt. Ich habe selbst gesehen, wie mein Vater ihn unter Wasser drückte.«
Diese Abschweifung schien selbst den Anwalt aus dem Konzept zu bringen. Er warf Max einen erneuten Blick zu, als hätte er eben erst den Streithammel der Familie identifiziert, schob seine Brille nach oben und machte sich eine Notiz.
»Vorfälle, die so weit zurückliegen, können absolut keinen Einfluss auf die Erbteilung haben«, wiederholte er mit Nachdruck.
Er las aus seinen Unterlagen vor: »Nachdem die erste Ehefrau für tot erklärt worden war, ging Henning eine Ehe mit Gertrud ein, mit der er bereits die beiden Söhne Leif und Birger hatte. Für keine der beiden Ehen bestand ein Ehevertrag. Und eine Erbteilung kam früher nie in Betracht.« Er hob den Kopf. »Ist das richtig?«
Bevor irgendjemand weitere Einwände vorbringen konnte, sprach er rasch weiter: »Das bedeutet, dass der Hof mit dem Tod von Henning zu gleichen Teilen auf Hennings und Annas Erben überging. Annas Alleinerbe ist Max, und nachdem Gertrud ihren Pflichtteil bekommen hat, wird der Rest des väterlichen Erbes unter den drei Brüdern aufgeteilt. Irgendwelche Einwände?«
Nun war der Moment gekommen, in dem Leif seinem verletzten Herzen endlich Luft machen konnte. Man hörte ein schrilles Quietschen, als er seinen Stuhl zurückschob, abrupt aufstand und seine geballten Fäuste auf die Tischplatte stützte.
»Soll es etwa gar nichts bedeuten, dass ich den Hof in all den Jahren bewirtschaftet habe?«, bellte er. »Das muss mir doch irgendwie angerechnet werden!« Er hatte schnaubend den Kopf zwischen die Schultern sinken lassen und schaute sich streitlustig um.
Fahr zur Hölle, dachte Birger, der sich mittlerweile hinter seinem Valiumnebel sicher verschanzt hatte.
»Da hat man sich vierzig Jahre lang abgerackert, hat den Hof instand gehalten und auf Vordermann gebracht, und dann kommen diese beiden da . . .«, er spuckte die Worte förmlich aus und warf seinen Kopf zu der Seite, wo seine beiden gierigen Brüder saßen, ». . . die in all den Jahren keinen Finger gerührt haben und jetzt alles an sich reißen wollen, was ich mir im Schweiße meines Angesichts erarbeitet habe. Ach, zum Teufel mit euren Gesetzen. Es gibt keine Gerechtigkeit . . .«
Gertrud schaute ihren Sohn wohlgefällig an, als sei sie stolz auf seine Leistung, so lange und zusammenhängend gesprochen zu haben. Sie nickte zustimmend. »Nein, Gerechtigkeit können wir uns offenbar nicht erwarten«, fügte sie bitter hinzu.
Falls der Anwalt ein Herz hatte, so schien es durch diese Auftritt nicht berührt worden zu sein, denn er entgegnete trocken: »Aber Sie haben in diesen Jahren doch sicher auch einen Gewinn erwirtschaftet, der Ihnen zugute kam.«
»Was für einen Gewinn?«, brüllte Leif. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie es heutzutage zugeht? Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, dass man als Bauer Profit machen kann!«
Gertrud versuchte ihn wieder auf den Stuhl hinunterzuziehen. »Leif will sagen, dass wir gezwungen waren, große Summen für die Pflege und Modernisierung des Hofes aufzuwenden«, verdeutlichte sie.
»Nun, wenn Sie den Wert des Hofes nicht nur erhalten, sondern gesteigert haben, wird Ihnen das bei der Erbteilung natürlich angerechnet«, sagte der Anwalt. »Können Sie eine Wertsteigerung denn belegen?«
»Das können wir sicher«, antwortete Gertrud. »Aber auf die Schnelle geht das nicht. Das müssen wir in aller Ruhe ausrechnen.«
Als wittere Max Betrug, stieß er einen unbestimmten Laut aus, doch der Anwalt ließ ihn mit einem Löwenbändigerblick verstummen und fasste rasch zusammen: »Also gehen wir von einer proportionalen Erbteilung aus, bei der eine eventuelle Wertsteigerung des Hofs zu berücksichtigen ist. Steht noch die Frage aus, in welcher Form die Teilung vonstatten gehen soll. Wollen Sie, Leif, den Hof weiter bewirtschaften und Ihre Mitbesitzer auszahlen?«
Leif starrte vor sich hin, als wäre ihm der Glaube an eine gerechte Welt abhanden gekommen.
»Was bleibt mir denn anderes übrig«, antwortete er dumpf. »Das ist mein Hof, den ich seit über vierzig Jahren betreibe. Ich kann nicht anders, also muss ich mich wohl oder übel fügen. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich die beiden auszahlen soll.«
Darauf reagierte der Anwalt mit einer Kaltblütigkeit, die Anwälte in Anbetracht irrelevanter Äußerungen an den Tag zu legen pflegen. »Das ist natürlich das Sinnvollste«, murmelte er zerstreut und machte sich Notizen. »Noch weitere Wünsche oder Fragen?«, wollte er wissen.
Gunnel, die es gewohnt war, dass ihr Mann nicht den Mund aufmachte, schaute zu Birger hinüber, dessen Interessen gewahrt werden mussten. Mit ihrem Sinn fürs Wesentliche steuerte sie direkt auf die Kernfrage zu.
»Wir haben noch gar nicht erfahren, um welchen Wert es sich handelt, wie hoch die Summe ist und wann sie ausgezahlt werden kann.«
Der Anwalt schaute sie dankbar an. Endlich einmal jemand, der sachlich blieb. »Ich werde unverzüglich einen Gutachter bestellen, der den Wert des Hofes bestimmt und auch eine mögliche Wertsteigerung in Betracht ziehen wird«, antwortete er verbindlich. »Die Höhe des Nachlasses bemisst sich nach den bestehenden Vermögenswerten, also dem Hof und etwaigen weiteren Immobilien, abzüglich der Verbindlichkeiten, zum Beispiel Hypothekenbelastungen. Sobald mir alle Zahlen vorliegen, werde ich einen Vorschlag für die Erbteilung unterbreiten, und wenn sich alle mit diesem einverstanden erklären, können wir den Vorgang vielleicht noch in diesem Jahr zum Abschluss bringen.«
Die Enttäuschung stand Gunnel ins Gesicht geschrieben.
»So lange . . .? Aber wenn Leif den Hof übernehmen will, dann muss er uns doch auszahlen.«
»Wieso übernehmen?«, knurrte Leif. »Ich habe ihn jetzt seit fünfundvierzig Jahren, verdammt noch mal!«
»Natürlich, das muss er«, bestätigte der Anwalt. »Zunächst muss natürlich geprüft werden, inwieweit Bargeld mobilisiert werden kann. Das könnte durch eine vertretbare Erhöhung der Hypothek auf die Immobilie geschehen oder durch die Veräußerung anderer Vermögenswerte, womit durch den Verkauf des alten Hofs sowie unrentabler Anbauflächen ja bereits begonnen wurde. Für den Rest müssen zunächst Schuldscheine ausgestellt werden.«
»Schuldscheine?«, protestierte Max. »Von denen kann man nicht leben. Ich bin schon alt und kann nicht ewig warten.«
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, keifte Gertrud. »Euch vielleicht aushalten?«
Der Anwalt blickte auf die Uhr und ließ seine Unterlagen rasch wieder in der Aktentasche verschwinden. Er sah ein wenig erschöpft aus.
Beim Geräusch der Stühle, die quietschend zurückgeschoben wurden, kam Birger zu sich. Doch die Freiheit war noch nicht in Reichweite. Gertrud postierte sich mit einer Miene vor der Haustür, als habe sie noch einen Trumpf im Ärmel. Mit Blick auf Max zeigte sie auf eine große Reisetasche, die unter der Hutablage stand.
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